f April 2021 ~ Heimatforschung im Landkreis Celle

Donnerstag, 29. April 2021

Die Begradigung der Aller - Auswirkungen auf das Landschaftsbild


Der Flusslauf der Aller hat sich im Laufe der Geschichte stark verändert. Vor allem durch menschliche Eingriffe in das natürliche Landschaftsbild. Vom Urstromtal bis hin zu einem durch Stauwehre regulierten Verlauf. Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse.  

Wenig erinnert heute noch an die ursprünglichen Verhältnisse, wie sie einst in Bezug auf den Lauf der Aller im Bereich oberhalb von Celle vorherrschten. Die Aller entstand als eiszeitliche Abflussrinne, als "Urstromtal" mit einer durchschnittlichen Breite von ca. 20 km in der vorletzten Eiszeit - also ab einer Zeit vor etwa 235.000 Jahren. 

Der Wechsel von Warm- und Kaltzeiten, das Abschmelzen großer Gletscher und der Abtransport des Schmelzwasser sowie des abgeschwemmten Materials formten nach und nach den heutigen Landschaftsraum. Im Bereich oberhalb von Celle entstand ein Vielstromsystem mehrerer kleiner, teilweise wild verlaufender Wasserläufe, die je nach Wasserführung unterschiedlich ausgeprägt waren. 

Die Aller markierte seit jeher territoriale und politische Grenzen - einst, wie auch heute. Hier lag bereits im Mittelalter der nördlich befindliche Gretingau dem südlich der Aller gelegenen Flutwide gegenüber. Heute markiert die Aller an selbiger Stelle die politischen Grenzen zwischen der Samtgemeinde Flotwedel und der Samtgemeinde Lachendorf. 

Was der Mensch über Jahrhunderte als naturgegeben angesehen hatte, geriet mit der anwachsenden Bevölkerungsdichte zunehmend auf den Prüfstand. Siedlungen und Äcker mussten vor unberechenbaren Hochwassern geschützt werden - gleichzeitig war das Wasser ein wichtiger Nährstofflieferant. 

Bild: ursprünglicher Allerlauf oberhalb von Celle/Altencelle. Quelle: NLA HA Kartensammlung Nr. 31 c/21 pg, Kennzeichnung als public domain

Ausschlaggebend für der landwirtschaftlichen Wasserbau war in erster Linie die Grünlandwirtschaft im hiesigen Raum. Aber auch die wasserwirtschaftlichen Bedürfnisse der örtlichen Gewerke, wie beispielsweise der Wassermühlen mussten berücksichtigt werden. Erste gravierende Eingriffe in den natürlichen Flusslauf der Aller erfolgten im Zuge der Anlage des Mühlengrabens (bzw. Mühlenkanals) und die hiermit verbundene Errichtung der Langlinger Schleuse gegen Ende des 18. Jahrhunderts. 

Schleusen kam früher eine besondere Bedeutung zu, denn schließlich galt es das nährstoffreiche Wasser für die landwirtschaftliche Bewässerung zu nutzen. Hölzerne Schleusen und Stauwehre ermöglichten es, den Wasserstand auf Feldern und Wiesen zu regulieren. So versorge die alte Oppershäuser Schleuse beispielsweise den Osterbruchkanal an den sich wiederum Staugräben anschlossen, die das Osterbruch bei Osterloh mit wasser versorgten. 

Im Abschnitt der Aller bei Celle existierten früher mehrere Staugenossenschaften, die für die Oberflächenbewässerung zuständig waren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Melioration - insbesondere im Flotwedel - stark vorangetrieben. Sogenannte Rieselwiesen ermöglichten es, durch ein durchdachtes System von Be- und Entwässerungsgräben den Grasertrag um ein Vielfaches zu steigern. 

Die Hochwassersituation blieb jedoch fortwährend unberechenbar. Insbesondere dann, wenn im Harz die Schneeschmelze einsetzte, gelangten große Wassermengen über die Oker in die Aller. Zu Hochwasser kam es aber auch gelegentlich in den Sommermonaten. Aufgrund der ausufernden Flussmeander  oberhalb von Celle konnten diese Wassermengen nicht schnell genug abgeleitet werden. Die Folge: die Aller trat insbesondere in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach heftig über ihre Ufer. 

Gravierende Hochwasserschäden, die sich im Falle der Sommerhochwasser unmittelbar auf den Ernteertrag auswirkten, trugen zur Gründung des Wasserverbandes Mittelaller im Jahr 1958 bei. Sein Verbandsgebiet erstreckte sich auf einer Strecke von rund 33 km zwischen der Okermündung bei Müden und Celle. Hauptaufgabe des Wasserverbands war es, eine schadlose Abführung der Sommerhochwasser zu erreichen. 

In den Jahren nach 1958 konnten fast 10 km Flusslauf ausgebaut werden und ein vollautomatisches Wehr bei Osterloh in Betrieb genommen werden. Die Bauarbeiten Im Allerabschnitt zwischen Langlingen und Celle wurden zu erheblichen Teilen durch das Westerceller Bauunternehmen Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG ausgeführt. 

Das Unternehmen war bereits im Zweiten Weltkrieg an zahlreichen Großbauprojekten beteiligt - u.a. im Bereich der Küstenbefestigungen des Atlantikwalls, auf Großbaustellen in Osteuropa und beim Bau von Rüstungsanlagen innerhalb des Reichsgebietes. In Hambühren hatte das Unternehmen im Zuge der Baumaßnahmen in Zusammenhang mit dem Rüstungsvorhaben "Hirsch" hunderte weibliche jüdische KZ-Häftlinge beschäftigt. Nach Kriegsende war die Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG am Bau von Autobahnen, Deichanalgen, Sportanlagen, Brücken, Straßen u.v.m. beteiligt. 

Im Jahr 1960 begannen die Bauarbeiten am Allerwehr am sogenannten Thee-Winkel bei Osterloh. Mittels eines Durchstichs durch die langgezogene Flussschleife der Aller wurde eine Verkürzung des Flusslaufes um rund 2.000 m erzielt. Im Bereich des Durchstichs wurde mit dem Bau des neuen Wehrs begonnen. 

Bild: Einziehen von Spundwänden und Betonierungsarbeiten. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 

Etwa 130 m breit war die engste Stelle des sogenannten Thee-Winkels, an der der Durchstich erfolgte. Nur unter großen Anstrengungen gingen die Bauarbeiten voran. Am 10. Dezember 1960 schrieb die Cellesche Zeitung hierzu: 

"Augenblicklich stehen jedoch die Männer der Firma Thiele-Marahrens im harten Kampf mit den Wasserfluten. Es ist, als ob die Aller noch in der letzten Minute verhindern wollte, dass die Menschen mit ihrem Eingriff den alten Flusslauf begradigen." 

Bild: Durchstich am Thee-Winkel bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 

Bis in den Sommer des Jahres 1961 zogen sich die Bauarbeiten bei Osterloh hin. Die Hannoversche Presse schrieb am 4. August 1961 darüber: 

"Der Zufluss der ungebärdigen Oker in die Aller ist zum größten Teil schuld an diesen katastrophalen Hochwassern der letzten Jahre. Daher ist es nötig, dem Fluss "Manieren" beizubringen. Hier am sogenannten Thee-Winkel bei Osterloh geschieht das durch das neue Wehr, das den Fluss um 2.000 Meter verkürzt." 

Das fast 90 m breite Doppelprofil der Mittelaller wurde durch zwei hochwasserfreie Leitdämme auf die 16 m breite Wehröffnung hin eingeengt. 

Bild: Blick in das trockengelegte Wehr bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 

Zum Bau des Wehrs wurden rund 8.500 Kubikmeter Boden ausgehoben. Auf der gesamten Flussstrecke zwischen Altencelle und Wienhausen waren es insgesamt rund 80.000 Kubikmeter bewegter Boden. Für das Wehr bei Osterloh wurden 1.300 Kubikmeter Beton und ca. 35 Tonnen Stahl verbaut. Alleine die mächtige Wehrklappe maß rund 12 Tonnen. 

Die Wehranlage an sich war auf dem modernsten Stand der Technik. Fischtreppen sowie Vorrichtungen für Paddler waren beim Bau entsprechend berücksichtigt worden. 

Bild: Das fertiggestellte Wehr bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 

Im Allerabschnitt zwischen Langlingen und Celle haben die Flussbegradigungen der Aller überdeutliche Spuren hinterlassen. Zahlreiche abgetrennte Meander zeugen heute als "tote" Flussarme vom Eingriff in den natürlichen Verlauf der Aller. 

Nach Abschluss der ersten Ausbauphase im Bereich zwischen dem neuen Wehr bei Osterloh und der halben Strecke bis Wienhausen, folgte ab 1963 der Ausbau des Flussabschnitts unterhalb der Allerbrücke zwischen Wienhausen und Oppershausen. Der heute fast gradlinige Allerverlauf ist ein reines Kunstprodukt - ursprünglich wies die Aller in diesem Bereich ebenfalls einen deutlich geschwungeneren Verlauf auf, wie die historischen Karten belegen. 

Bild: Flussabschnitt unterhalb der Allerbrücke zwischen Wienhausen und Oppershausen. Quelle: H. Altmann, 2021. 

Ab 1964 erfolgte der Ausbau der Aller im Bereich Altencelle. Ab 1966 wurde die Aller unterhalb des Osterloher Wehrs begradigt. Es folgte ab 1967 der Ausbau des Flussabschnitts zwischen Schwachhausen und Offensen. 

Ab 1968 wurde der Abschnitt zwischen Offensen und Oppershausen ausgebaut, wobei insbesondere auch der Bau des neuen Allerwehrs bei Offensen ("Oppershäuser Schleuse") erfolgte. Alleine im Abschnitt zwischen Schwachhausen und Wienhausen konnten durch die gradlinige Umgestaltung des Allerverlaufs mehrere Flusskilometer "eingespart" werden. 

Bild: Baumaßnahmen zur Flussbegradigung oberhalb von Altencelle. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 

Das Ergebnis der Begradigungsmaßnahmen war eine massive Umgestaltung des ursprünglichen Verlaufs der Aller. Eine Maßnahme, die sich bis heute anhand der zahlreichen Altarme nachvollziehen lässt. Das Landschaftsbild wurde durch den menschlichen Eingriff nachhaltig verändert. Gleichzeitig entstanden auf diese Weise neue Lebensräume für Tiere, die sich nun an/in den "stillgelegten" Flussarmen ansiedelten. 

Bild: Aller und ihre toten Flussarme oberhalb von Schwachhausen. Quelle: H. Altmann, 2021. 

Im Zuge der Baumaßnahmen zur Allerbegradigung wurde das ursprüngliche Flussbett jedoch nicht einfach nur umgelegt und verkürzt. Es wurden stattdessen vielmehr Eingriffe vorgenommen, die die Aller in das neue Flussbett zwangen. Unter anderem wurde das neue Flussbett durch Matten geflochtener Zweige ausgekleidet, die mit großen Steinen beschwert wurden. Diese findet man heute in vielen Bereichen am Ufer - die Steine sind aber natürlich keineswegs auf natürliche Weise an Ort und Stelle gelangt. 

Mittlerweile sind einige alte Flussarme bereits stark verlandet. Der ursprüngliche Verlauf der Aller kann somit nur noch im Abgleich mit historischen Karten rekonstruiert werden. 

Bild: Aller und ihre toten Flussarme gegenüber von Bockelskamp. Quelle: H. Altmann, 2021. 

Inzwischen hat sich die Sichtweise auf den Umgang mit der Aller als ökologischen Lebensraum offenbar gewandelt. Was in den 1960er Jahren durch aufwändige und kostenintensive Eingriffe herbeigeführt worden ist, wird nun durch wiederum aufwändige und kostenintensive Eingriffe wieder beseitigt
 
Das Allerwehr bei Osterloh wird hochwasserneutral zurück gebaut. Die Flussschleife im Thee-Winkel wird wieder "in betrieb" genommen. Im Ergebnis soll die Aller bei Osterloh wieder "ökologisch durchgängig" werden. 

Bild: Baumaßnahmen an der Aller am Thee-Winkel bei Osterloh. Quelle: H. Altmann, 2021. 

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es zunächst die natürlichen Gegebenheiten waren, die dem Naturraum ihr Gepräge gaben. Im Laufe der Zeit vereinnahmte der Mensch auch diesen Naturraum immer mehr für seine eigenen Interessen. Wirtschaftlicher Nutzen und der das Verlangen nach Sicherheit trugen erheblich dazu bei, den wilden Verlauf der Aller in gezähmte Bahnen zu zwingen. 

Obwohl es bereits im 18. und 19. Jahrhundert Bestrebungen gab, durch Stauwehre und Durchstiche den Flussverlauf zu den eigenen Gunsten zu lenken, steht dies in keinem Verhältnis zu den Veränderungen, die im 20. Jahrhundert vollzogen worden sind. In nie dagewesener Weise wurden Bodenmassen bewegt, Umgestaltungen des Landschaftsbildes umgesetzt und dabei Eingriffe vorgenommen, die sich kaum wieder rückgängig machen lassen. Vor diesem Hintergrund können Renaturierungsmaßnahmen wohl nur als späte Wiedergutmachung daherkommen - sie können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Aller inzwischen in weiten Teilen einem künstlichen Flussbett folgt, das viel von seiner ursprünglich natürlichen und romantischen Erscheinung eingebüßt hat. 

H. Altmann
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Quellen: 
Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG. 
W. Kuchenbecker, Wasserwirtschaft und Wasserversorgung, in: Der Landkreis Celle, 1966. 
H. Lahring, Die Stauwiesen im Flotwedel, in: Der Speicher, 1930. 
C. Seiler, Die Aller - ein Fluss verändert seinen Lauf. 


Dienstag, 20. April 2021

Verladebereich des Marinesperrzeugamtes Starkshorn


Eine massive Rampe aus Beton an einem Waldweg bei Unterlüß dürfte manch einem Spaziergänger vielleicht bereits ins Auge gefallen sein. Dieses Relikt ist allerdings nur ein Teil des gesamten Verladebereichs, der sich dort einst befand. 

Zugegeben - die Vorstellung mutet befremdlich an. Doch tatsächlich befand sich im dichten Waldgebiet zwischen Unterlüß und Eschede einst ein Sperrwaffenarsenal der deutschen Kriegsmarine. Auf einer ca. 250 ha großen Fläche entstand ab Herbst 1937 das Marinesperrzeugamt Starkshorn. Es diente zur Fertigung größerer Sperrmittel, wie insbesondere See- und Torpedominen. 

Aufgrund seiner Abgeschiedenheit wurde das Marinesperrzeugamt nach Ende des Zweiten Weltkriegs durch die britischen Truppen als sogenannte "Demolition Area" verwendet. Unmengen an Munition und Geschosse unterschiedlicher Kaliber wurden aus der Umgebung in den Bereich des Marinesperrzeugamtes verfrachtet und dort verbrannt oder gesprengt. Rückstände aus jenen Tagen belasten das Areal bis in die heutige Zeit. Aus verschiedenen Gründen war die Verwendung der Demolition Area Starkshorn bereits in den späten 40er Jahren eingestellt worden - größere Mengen Munition und Sprengmittel hatte man stattdessen zunehmend im Tiefental bei Hermannsburg vernichtet, was dort ebenfalls bis heute erkennbare Spuren hinterlassen hat. 

Detaillierte Baupläne für das Marinesperrzeugamt Starkshorn sind bis heute ebenso wenig vorhanden, wie genaue Kenntnisse über die betrieblichen Abläufe vor Ort. So liegen zumeist lediglich Nachkriegsaufzeichnungen, Handskizzen und Zeitzeugenberichte und Aktenbestände, die das Marinesperrzeugamt randläufig erwähnen als Quellen vor. Hieraus geht hervor, dass es im Innenbereich des Sperrzeugamtes kaum Straßen gegeben hat - die logistische Infrastruktur bestand vielmehr aus einem umfangreichen Netz einer Schmalspurbahn, die zum einen die Fertigungsgebäude und Bunker innerhalb des Sperrzeugamtes miteinander verband. Zum anderen diente die ca. 6 km umfassende Schmalspurtrasse zur Anbindung an die Normalspurgleise im Bahnhof Unterlüß. 

Bild: Verlauf der Schmalspurbahn zwischen dem Marinesperrzeugamt und dem Bahnhof Unterlüß. Quelle: Google Earth, H. Altmann, 2021. 

Hintergrund dieses recht kompliziert anmutenden Logistiksystems war, dass die Laborierung der Zünder von See- und Torpedominen höchst empfindlich war. Jede auch noch so geringe elektrostatische Entladung konnte eine folgenschwere Katastrophe nach sich ziehen. Die Schiene war somit das vergleichsweise sicherste Transportmittel innerhalb des Marinesperrzeugamtes. 

Um die fertiggestellten Minen zu ihrem finalen Bestimmungsort zu transportieren, war die Schmalspurbahn freilich nicht geeignet. Daher musste an geeigneter Stelle eine Übergabe bzw. Umladung auf Wagen der Reichsbahn, d.h. auf Normalspur erfolgen. Ein Verladebahnhof in unmittelbarer Nähe zum Marinesperrzeugamt hätte aber sicherlich das Konzept einer aufwändig getarnten und geheimen Produktionsanlage zunichte. Derart auffällige Baulichkeiten im Bereich des ansonsten gradlinig verlaufenden Bahnkörpers wären der militärischen Luftaufklärung sehr wahrscheinlich schnell aufgefallen. 

Aus diesem Grund wurde der Übergabepunkt der Schmalspurtrasse einige Kilometer nördlich verlegt. Er befand sich unmittelbar südlich des Unterlüßer Bahnhofs. 

Bild: Übergabe-/Verladebereich unmittelbar südlich von Unterlüß. Quelle: Google Earth, H. Altmann, 2021.

In einer langgezogenen Schleife führte die Schmalspurbahn an eine Rampe, die das Verladen auf ein Stichgleis der Normalspurtrasse ermöglichte. Relikte dieser massiven Verladerampe aus Beton sind bis heute an einem Waldweg deutlich erkennbar. 

Bild: Übergabe-/Verladebereich unmittelbar südlich von Unterlüß. Quelle: H. Altmann, 2021.

Die Konstruktion der Verladerampe besteht aus massivem Gussbeton, der die Zeit verhältnismäßig gut überstanden hat. Dennoch hat die Vegetation die Anlage inzwischen wieder stark vereinnahmt. 

Bild: Übergabe-/Verladebereich unmittelbar südlich von Unterlüß. Quelle: H. Altmann, 2021.

Auf der Konstruktion aus massiven Gussbetonstützen ruhte ursprünglich eine Deckenplatte aus Beton. Diese ist in einigen Abschnitten der Verladerampe mittlerweile stark marodiert und nach unten durchgebrochen, sodass abschnittsweise nur noch die Betonstützen vorhanden sind. In ihrer ursprünglichen Beschaffenheit musste die Deckenplatte mehrere hundert Kilogramm Last an See- und Torpedominen aushalten. Ihre bauliche Ausgestaltung dürfte den damaligen Sicherheitsstandards genügt haben. 

Das Gleis der Schmalspurtrasse verlief offenbar auf Höhe der Verladerampe - die Normalspurtrasse verlief dagegen in einem tiefer liegenden Gleisbett, sodass ein Umladen auf gleicher Ebene möglich war. 

Bild: Übergabe-/Verladebereich unmittelbar südlich von Unterlüß. Quelle: H. Altmann, 2021.

Im Bereich zwischen der Verladerampe und der Fernbahnstrecke Hannover-Hamburg befinden sich heute noch die Relikte der Schleife der ehemaligen Schmalspurtrasse. Diese führte im Bogen südlich von Unterlüß entlang der Fernbahntrasse wieder zurück auf die Strecke zum Marinesperrzeugamt. Vom einstigen Gleisverlauf sind heute nur noch die Böschungen im Gelände erkennbar. 

Bild: Böschungen der ehemaligen Schmalspurtrasse unmittelbar südlich von Unterlüß. Quelle: H. Altmann, 2021.

In der südlichen Verlängerung der Normalspurtrasse entlang der Verladerampe führte ein kurzes Stichgleis zu einem kleinen Lok- bzw. Werkstattschuppen. Von diesem sind bis heute lediglich noch die Fundamente erhalten geblieben. Die kleine Werkstatt verfügte offenbar über eine entsprechende Montagegrube, die noch erkennbar ist. 

Bild: Relikte des ehemaligen Lok- bzw. Werstattschuppens. Quelle: H. Altmann, 2021.

Nach Kriegsende wurden die Einrichtungen und Anlagen des Marinesperrzeugamtes teils geplündert, teils durch Schrotthändler ausgebeutet und zu weiten Teilen durch die Munitionsvernichtung stark in Mitleidenschaft gezogen. Bereits im September 1945 hatte die Forstverwaltung in Unterlüß einen entsprechenden Antrag bei der britischen Militärverwaltung eingereicht, um Zugriff auf die im Gelände befindlichen Gleisanlagen einschließlich der Loks und des übrigen rollenden Materials zu erhalten - die Maschinen und Anlagen sollten als Waldbahn für den Holztransport verwendet werden. 

In wessen Hände die Anlagen und Maschinen der Schmalspurbahn letztlich fielen und wo diese Vermögensgegenstände letztlich verblieben sind, ist noch nicht abschließend geklärt worden. Sie wurden offenbar in der unmittelbaren Nachkriegszeit demontiert und einer neuen Verwendung zugeführt. 

So sind bis heute nur noch die baulichen Relikte des ehemaligen Verladebereichs des einstigen Marinesperrzeugamtes erhalten geblieben. Sie zeugen bis heute von einer Zeit in der zwischen Unterlüß und Eschede - mitten im Wald - See- und Torpedominen hergestellt und auf logistisch ausgefeilte Art und Weise abtransportiert worden sind. 

H. Altmann

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Quellen: 
  • NLA HA, Nds. 660 Lüss, Acc. 2009/057 Nr. 39. 
  • Gries/Hoppe, "was wir tun, ist nicht gerade zum Guten...". 
  • Material Archiv Altmann. 


Dienstag, 13. April 2021

Neue Gedenkstätte in Unterlüß


In Unterlüß informiert künftig eine neue Gedenkstätte über die Arbeitslager, die sich im Ort befanden und schafft einen Anlaufpunkt für das Gedenken an die Menschen, die in der Zeit des Dritten Reiches in der Umgebung Zwangsarbeit verrichten mussten. 

Unterlüß. Lange hatte sich die Realisierung des Projektes hingezogen - mehrfach mussten die angestrebten Eröffnungstermine Corona-bedingt verschoben werden. Dennoch konnten die Baumaßnahmen an der neuen Gedenkstätte planmäßig zum 13. April 2021 abgeschlossen werden. An diesem Tag, dem 76. Jahrestag des Kriegsendes vor Ort, wurde die neue Gedenkstätte offiziell an die Öffentlichkeit übergeben. Mit ihr soll an die Lager der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und insbesondere an das sogenannte Tannenberglager, als Außenstelle der Konzentrationslagers Bergen-Belsen, erinnert werden. 

Eine Arbeitsgruppe aus Vertretern der Firma Rheinmetall, Vertretern des Arbeitskreises „Tannenberglager“ und der Gemeinde Südheide engagiert sich seit über zwei Jahren an der Aufarbeitung der Geschichte der Lager in Unterlüß und konzipierte zunächst vier Gedenktafeln, die künftig einen Anlaufpunkt für die Auseinandersetzung mit der örtlichen Geschichte bilden. Die neue Gedenkstätte befindet sich in der Parkanlage an der Müdener Straße, gegenüber der Einmündung Neuensothriether Straße. Die Fläche wurde durch die Gemeinde Südheide errichtet, die Kosten für die Gedenktafeln und die Beleuchtung wurden von der Firma Rheinmetall getragen und der Arbeitskreis „Tannenberglager“ stiftete die Sitzmöglichkeiten. Die redaktionelle Ausgestaltung der Gedenktafeln erfolgte in Eigenregie der Arbeitsgruppe. 

Die Beteiligten möchten mit der Errichtung der Gedenkstätte an das Leid der im Dritten Reich in den Lagern inhaftierten Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gedenken und für die heutigen sowie die kommenden Generationen einen geeigneten Zugang zur Geschichte schaffen.

Bild: Gedenktafeln in Unterlüß. Bild: Altmann, 2021. 

Eine angemessene Eröffnungsveranstaltung der neuen Gedenkstätte konnte Corona-bedingt nicht durchgeführt werden und leider konnten auch nicht alle diejenigen, die sich aktiv und intensiv in die Verwirklichung des Projektes eingebracht haben, bei der Übergabe der Gedenkstätte anwesend sein. Die ursprünglich angestrebte Einweihung der Gedenkstätte wird daher nachgeholt werden, sobald die Corona-bedingte Lage dies zulässt. 

Vor diesem Hintergrund erfolgte am 13. April 2021 lediglich eine offizielle Übergabe des Ortes an die Öffentlichkeit im kleinsten Kreis. 

Bild: offizielle Übergabe der neuen Gedenkstätte an die Öffentlichkeit. v.L.: Rainer Vogeler, Monika Oetke, Hendrik Altmann, Katharina Ebeling, Manfred Mäule. Quelle: Altmann, 2021. 


H. Altmann



Freitag, 9. April 2021

8. April 1945 - Bomber der US Air Force über Celle


Der 8. April 1945 markiert bis heute ein schreckliches Kapitel in der Geschichte der Stadt Celle. Beim Luftangriff der 9. US Air Force im Bereich des Celler Güterbahnhofs wurde unter anderem ein Zugtransport mit KZ-Häftlingen getroffen. Es kam zu einer Jagd auf entflohene Häftlinge, zu schweren Ausschreitungen und zu Erschießungen. Obwohl die Zusammenhänge schon mehrfach betrachtet wurden, geben aktuelle Recherchen neue Einblicke in die damaligen Abläufe des Luftangriffs.

Am 9. Februar 1945 war die 323rd Bomb Group der US Air Force auf den Flugplatz Denain/Prouvy in Nordfrankreich verlegt worden.[1] Zu diesem Zeitpunkt verfügte die Einheit bereits seit zwei Jahren über schnelle, zweimotorige Mittelstreckenbomber des Typs Martin B-26 „Marauder“ (deutsch: „Plünderer“). Zwischen Mai 1943 und Anfang 1945 hatte die 323rd Bomb Group gemeinsam mit weiteren Verbänden nahezu alle Arten von denkbaren Bodenziele bombardiert. Unter anderem: Bahnanlagen, Flugplätze, Industrieanlagen, militärische Einrichtungen – darunter auch V-Waffen-Anlagen – in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Dementsprechend routiniert waren die Flugzeugbesatzungen im Umgang mit ihren Maschinen in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs.

Der damals 23 jährige Theodore Vincent Harwood war als Pilot der 9. US Air Force in den Rang eines 1st Lieutenant im 456. Bombardement Squadron aufgestiegen, das der 323. Bombardement Group zugehörig war. Am frühen Nachmittag des 8. April 1945 starteten insgesamt 52 Flugzeuge des Typs B-26 von Harwoods Einheit in Denain/Prouvy, stiegen auf 11.300 Fuß Höhe und nahmen Kurs auf Norddeutschland.[2] Unterwegs stießen weitere Flugverbände der 394., 397. Und 387. Bombardement Group hinzu. 

Die Maschine, die Harwood und seine Besatzung an diesem sonnigen Frühlingstag nach ca. 3:45 Stunden Flugzeit nach Deutschland brachte, trug die Kennung 41-34967 und den Namen „Hell’s Belle“. Aufgrund des guten Wetters konnte der Angriff „auf Sicht“ geflogen werden – das offizielle Ziel war die „Ninhagen Oil Refinery“.[3] Was Harwood, seine Crew und die beteiligten Flugverbände nicht ahnten: der Einsatz sollte nicht reibungslos ablaufen. 

Bild: Flugzeugnase der "Hell's Belle". Quelle: Roger Freeman Collection FRE 4641 | American Air Museum in Britain, no changes, Object no: FRE 4641, CC-BY-NC

Nienhagen wurde am 8. April 1945 noch vor Ankunft der anfliegenden B-26-Verbände durch einen weiteren Luftangriff getroffen. In der Ortschronik heißt es hierzu, dass bereits ab 10:00 Uhr Tiefflieger über eine längere Zeit die, im Bereich des Bahnhofs befindlichen, Tankanlagen in Brand schossen.[4] Es konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden welche Tiefflieger für diesen Angriff verantwortlich waren. In den Beständen des Australian War Memorial befinden sich zwei Fotografien, die aus Bordkameras anfliegender Flugzeuge aufgenommen worden sind. 

Bilder: Celle, Germany. C. 1945-03. Cannon strikes from a Tempest fighter aircraft of RAF 2nd Tactical Air Force on a large oil storage drum at Celle; Celle, Germany. C. 1945-03. Cannon strikes from a Tempest fighter aircraft of RAF 2nd Tactical Air Force on a large oil storage drum at Celle; AWM; SUK13965, SUK13964, Public domain. 

Die Bilder lassen sich zweifelsfrei den großen Ölspeicheranlagen der Firma Wintershall zuordnen, die sich früher im Bereich des Bahnhofs Nienhagen befunden haben. Im Jahr 1935 waren im Bereich des ehemaligen Gutsparks in Nienhagen zwei Riesentanks für die Ölspeicherung errichtet worden, die ein Fassungsvermögen von je 15.000 Kubikmeter aufwiesen und damit zu ihrer Zeit die größten ihrer Art auf dem europäischen Kontinent waren. 

Bild: Ölanlagen im Bereich des Bahnhofs Nienhagen. Quelle: Petroleum Facilities of Germany, The Enemy Oil Comittee, March 1945, public domain. 

Eben diese Tanks wurden im April 1945 durch Tiefflieger beschossen und in Brand gesetzt. Den Bildbeschreibungen zufolge handelt es sich um einen Beschuss aus den Bordmaschinenkanonen eines „Tempest fighter“ Flugzeugs der 2nd Tactical Air Force der Royal Air Force auf einen großen Ölspeicher in Celle.[5] Flugzeuge des Typs „Hawker Tempest“ wurden allerdings nur von der britischen Royal Air Force (RAF) eingesetzt. 

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass kein einziger Einsatzbericht der jeweiligen RAF Squadrons, die mit Maschinen des Typs Tempest ausgerüstet waren und zu jener Zeit in Norddeutschland operierten, Hinweise auf einen Luftangriff am 8. April 1945 auf Ölanlagen bei Nienhagen liefert. Ob eventuell eine Verwechselung vorliegen könnte, bleibt ungeklärt. Sehr wahrscheinlich handelte es sich nicht um Flugzeuge der RAF sondern der US Air Force, die Bodenziele in Brand schossen, damit die B-26 Staffeln ihr Ziel im Sichtflug ansteuern konnten.

Bild: brennende Ölspeichertank am Bahnhof Nienhagen. Quelle: Gedicke, Chronik Nienhagen. 

Als die B-26 „Marauder“ Staffeln den Luftraum erreichten, brannten die Öltanks bei Nienhagen bereits.[6] Ein seitlich aus einem Flugzeug aufgenommenes Foto zeigt drei B-26 währen diese ihre Bomben über Nienhagen ausklinkten.[7] In der linken unteren Bildhälfte sind die Bahnstrecke und die Gleisabzweigungen bei Celle gut erkennbar. 

Bild: Three Martin B-26 Marauders Aim Fresh Blows At The Nienhagen, Germany Oil Refinery Obscured By Thick Smoke From Previous Hits By 9Th Bombardment Division. Quelle: www.Fol3.com, NARA Reference: 342-FH-3A22118-57133AC, published with permission of Fold3.com

Über der Stadt selbst liegt dichter Qualm – laut Bildbeschreibung stammte dieser von einem zuvor erfolgten Luftangriff mittlerer und leichter Kampfflugzeuge auf Öltanks bei Nienhagen. Dies kann aber nicht zutreffen. Erstens liegt die Rauchwolke zu weit über Celle. Würde sie vom Angriff auf die Öltanks bei Nienhagen stammen, wäre die Wolke im Bild weiter nach Süden verlagert. Zweitens herrschte an jenem 8. April 1945 Wind aus südwestlicher Richtung. 

Der Qualm zog daher in von Nienhagen in nordöstliche Richtung, d.h. grob nach Flackenhorst/Bockelskamp ab. Die Qualmwolke von Nienhagen hätte sich daher unmöglich weiter nach Celle ausgebreitet. Diese Erkenntnis lässt jedoch kaum einen anderen Schluss zu, als dass der Luftangriff auf die Ölanlagen bei Nienhagen noch im vollen Gange gewesen sein muss, während bereits der Angriff auf den Celler Güterbahnhof erfolgte. Die beiden großen Öltanks, die sich südlich von Nienhagen an der Langerbeinstraße befanden, waren beim Tieffliegerangriff ebenfalls in Brand geschossen worden.[8] Dies führte zum ersten Problem der Bomberpiloten: der aufsteigende Qualm war so dicht, dass einige der Staffeln die Ölanlagen nicht erkennen konnten und wiederholt anfliegen mussten.[9] 

Bild: Ansicht des ehemaligen Bahnhofs Nienhagen heute. Quelle: H. Altmann, 2020. 

Ein weitaus schwerwiegenderes Problem ereilte die Besatzung der Maschine „Hell’s Belle“ von 1st Lieutenant Harwood. Das Flugzeug war im Anflug auf die Ölanlagen bei Nienhagen als der Heckschütze plötzlich rief: „Flak at six o’clock.“[10] Das Flakfeuer stammte möglicherweise von einer Flakbatterie, die bei Burgdorf positioniert war – dies würde jedenfalls zur Richtungsangabe „six o’clock“ passen.[11] Kurz darauf war das Donnern detonierender Geschosse von Flugabwehrkanonen (Flak) und das Geräusch zerberstenden Metalls zu vernehmen. 

Der Bordingenieur kam zu Harwood – er war überströmt mit Hydraulikflüssigkeit. Ein Schrapnell einer Flakgranate hatte einen unter Druck stehenden Hydraulikschlauch durchrissen. Weitere Beschädigungen gab es im Bereich des Munitionslagers der Bordmaschinenkanonen. Die Fallschirme einiger Besatzungsmitglieder waren zerstört. Ein Treibstofftank im Inneren des Linken Flügels war durchlöchert – Kerosin drang aus. „Hell’s Belle“ brach aus der Formation. Die Besatzung erwog einen Absprung aus dem schwer beschädigten Flugzeug – es war jedoch nur noch ein intakter Fallschirm vorhanden. 

Man entschied sich stattdessen eine riskante Bruchlandung zu wagen. Aufgrund des Druckabfalls im Hydrauliksystem ließ sich das Fahrwerk nicht mehr ausfahren. Unter mühevollen Anstrengungen glückte die Landung schließlich auf einem weiter entfernten britischen Ausweichflugfeld. Bevor das Flugzeug über Nienhagen abdrehte, schaffte es der Bordingenieur den Bombenschacht manuell zu öffnen, sodass die darin befindlichen Bomben ausgeklinkt werden konnten. Eine an sich schon gefährliche Bruchlandung wäre mit dieser tödlichen Fracht sicherlich misslungen.

Bild: Bombenkrater im Wald südlich Nienhagen. Quelle: H. Altmann, 2020. 

Im Sommer 2010 räumte der Kampfmittelbeseitigungsdienst bei Nienhagen mehrere amerikanische 250 kg Bomben. Hierbei stellte der zuständige Sprengmeister fest, dass diese Bomben beim Luftangriff am 8. April 1945 wohl ihr Ziel verfehlt hatten – an den Zündern war erkennbar, dass der Pilot Probleme beim Abwurf gehabt habe muss.[12] Gut möglich, dass es sich dabei um die notdürftig abgeworfenen Bomben der B-26 „Hell’s Belle“ handelte.

Bild: Rauchwolke der brennenden Ölanlagen bei Nienhagen - aus Celle aufgenommen. Quelle: StadtA CE, F 01, 21.06.02 Nr. 0010. 

Während über Nienhagen bereits tiefschwarze Rauchwolken lagen, ahnte man in Celle offenbar noch nichts von der herannahenden Katastrophe. Augenzeugen zufolge hatte der Luftangriff auf die Öltanks bei Nienhagen bereits am Vormittag eingesetzt. Die Bombardierung auf das Erölwerk durch eine geringe Anzahl schneller Kampfflugzeuge vermeldet der Bericht der Ordnungspolizei für 16:00 Uhr.[13] Dieselbe Quelle gibt für 18:10 bis 19:15 Uhr einen „Angriff durch etwa 80 Flugzeuge unter Abwurf von 360 Minen- und Sprengbomben“ auf die Stadt Celle an.[14] 60 Wohngebäude seien dabei schwer, mehrere hundert leicht bis mittel beschädigt worden und drei Industriebetriebe total zerstört worden. 

Der Polizeibericht benennt ebenfalls, dass ein Transportzug mit 3.500 KZ-Häftlingen getroffen worden sei. Die Chronologie der Ereignisse des 8. April 1945 ist insoweit eindeutig: der Luftangriff auf Nienhagen setzte ein, bevor die Bomben auf den Celler Güterbahnhof fielen. So zeigen Aufnahmen aus Celle zwei große Rauchsäulen, die südlich der Stadt – in Blickrichtung Nienhagen – am Horizont stehen. Eine weitere Aufnahme zeigt die deutlich nähere Rauchentwicklung vom Bereich des Celler Güterbahnhofs. Diese Bilder belegen eindeutig die zeitliche Abfolge des Luftangriffs.

Bild: Rauchwolke des Bombenangriffs auf den Celler Güterbahnhof am 8. April 1945. Quelle: StadtA CE, F 01, 21.06.02 Nr. 0011. 

Ein weiteres Ereignis steht in Zusammenhang mit den Geschehnissen an jenem 8. April 1945. In den Aufzeichnungen des Bockelskämper Lehrers Bernhard Otte und des Landwirts Emil Scheele findet der Luftangriff auf die Erdölwerke bei Nienhagen ebenfalls Erwähnung. Ebenfalls beschrieben ist der Absturz eines deutschen Jagdflugzeuges, das im Angriff auf die Bomberverbände abgeschossen worden ist.[15] Es handelte sich um den Unteroffizier Heinz Sonntag, der mit seiner Maschine des Typs FW 190-D auf Abfangkurs gegangen war.[16] 

Sonntag gehörte der 11. Staffel der III. Gruppe des Jagdgeschwaders 301 und war an diesem Tag von dem Flugplatz Sachau (Sachsen-Anhalt) aufgestiegen.[17] Im Luftkampf abgeschossen, stürzte Sonntag in der Bockelskämper Feldmark ab. Das Flugzeug bohrte sich metertief in den Erdboden – Sonntag überlebte den Absturz nicht. Er hatte offenbar versucht aus der Maschine abzuspringen und war in einiger Entfernung – ohne geöffneten Fallschirm – zu Boden. Später wurde er in Wienhausen bestattet. Mitte der 80er Jahre wurden die Flugzeugüberreste geborgen.[18]

Bild: Bombenkrater im Wald südlich Nienhagen. Quelle: H. Altmann, 2020. 

Die Luftangriffe am 8. April 1945 richteten erheblichen Schaden an und forderten in Celle darüber hinaus zahlreiche Menschenleben. Während die materiellen Schäden im Stadtgebiet behoben worden sind, zeugen rund um Nienhagen noch zahlreiche Krater von den Bombenabwürfen. Die Einschläge reichten vom Bereich westlich der heutigen Bundesstraße 3 bei Nienhagen bis weit in das Waldgebiet „Brand“ südlich des Ortes. Auffällig ist, dass die Bombenkrater über eine weite Distanz verstreut sind. Ob dies damit zusammenhängt, dass der eigentliche Zielpunkt bei Nienhagen aufgrund einer starken Rauchentwicklung nicht treffsicher angesteuert werden konnte, lässt sich heute nicht mehr abschließend ermitteln. Die überlieferten Aussagen von Zeitzeugen legen diesen Schluss zumindest nahe. 

Im Ergebnis vermag eine auch noch so detaillierte Aufschlüsselung der Ereignisse des 8. April 1945 nicht zu kaschieren, dass dieser Tag unbeschreibliches Leid mit sich brachte. Neben den direkten Auswirkungen der Bombardierung kam es in Celle zu grausamen Verbrechen gegen entlaufene Häftlinge des KZ-Transportzuges. Die Zusammenhänge sind jedoch derart komplex und vielschichtig, dass die Aufarbeitung bis heute nicht in allen Punkten als abgeschlossen betrachtet werden kann. Vor diesem Hintergrund können die vorgestellten Ergebnisse helfen, die zeitliche Betrachtung in ein neues Licht zu setzen.

H. Altmann

Stand: 09.04.2021; veröffentlicht: 09.04.2021

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[1] Maurer, Combat Squadrons oft he Air Force, World war II, S. 559.

[2] monache.blogspot.com/2007/06/my-fahters-b26-marauder-wwii-story-part.html, abgerufen: 16.12.2020, 20:56 Uhr.

[3] Headquarders 9th Bombardement Division, Field Order 839 & 840, 8. April 1945.

[4] Gedicke, Nienhagen, Bd. 2, S. 156.

[5] AWM, Accession Number SUK13965.

[6] Harwood, in: monache.blogspot.com/2007/06/my-fahters-b26-marauder-wwii-story-part.html, abgerufen: 16.12.2020, 20:56 Uhr.

[7] NARA Reference Number: 342-FH-3A22118-57133AC, Fold3: https://www.fold3.com/image/48699916

[8] Gedicke, Nienhagen, Bd. 2, S. 156.

[9] Harwood, in: monache.blogspot.com/2007/06/my-fahters-b26-marauder-wwii-story-part.html, abgerufen: 16.12.2020, 20:56 Uhr.

[10] Harwood, in: monache.blogspot.com/2007/06/my-fahters-b26-marauder-wwii-story-part.html, abgerufen: 16.12.2020, 20:56 Uhr.

[11] Saft, Krieg in der Heimat, S. 65.

[12] Cellesche Zeitung v. 13.06.2010, Sprengmeister entschärft 250-Kilo-Blindgänger.

[13] Chef der Ordnungspolizei, Hauptamt Ordnungspolizei, Bericht v. 08.04.1945, Bundesarchiv, R/19, 341.

[14] Chef der Ordnungspolizei, Hauptamt Ordnungspolizei, Bericht v. 08.04.1945, Bundesarchiv, R/19, 341.

[15] Otte, Scheele, Bockelskamp in schwersten Tagen.

[16] Cammann, Flugzeugabsturz bei Bockelskamp 1945, in: Böse, Schriftenreihe des Heimatvereins „Altes Amt Eicklingen“, Heft 5/2015, 70 Jahre danach, Zeitzeugen erinnern sich, S. 31.

[17] Reschke, Chronik Jagdgeschwader 301/302 „Wilde Sau“.

[18] Cammann, Flugzeugabsturz bei Bockelskamp 1945, in: Böse, Schriftenreihe des Heimatvereins „Altes Amt Eicklingen“, Heft 5/2015, 70 Jahre danach, Zeitzeugen erinnern sich, S. 31.