f Dezember 2023 ~ Heimatforschung im Landkreis Celle

Samstag, 23. Dezember 2023

Abenteuerliche Suche nach der Wüstung Bagehorn im Lüßwald


Historische Karten belegen, dass die Landschaft zwischen Eschede und Hösseringen in den letzten Jahrhunderten nur spärlich besiedelt war. Für ältere Zeiten fehlen schriftliche Belege für weitere Siedlungen ebenso. Dennoch wurde die Annahme begründet, dass sich in diesem Bereich einst die ehemalige Siedlung „Bagehorn“ befunden haben könnte. Eine Zusammenfassung und aktuelle Forschungsansätze.

In Hinblick auf Dorfwüstungen, also aufgegebene Siedlungen, schwingt häufig eine gewisse Schwere der Geschichte mit. Was mag die Bewohner im Einzelfall zu ihrer Aufgabe bewogen haben? Welche Schicksale mögen sich zugetragen haben? Kriege, Krankheiten, wirtschaftliche Faktoren und weitere Einflüsse werden regelmäßig als Ursachen für die Entstehung von Wüstungen benannt. In einigen Fällen dürften die Hintergründe allerdings durchaus weniger tragisch gewesen sein – gelegentlich führten familiäre Umstände oder die einsetzende Fluktuation in Städte dazu, dass alte Siedlungen und insbesondere einzelne Hofstellen aufgegeben wurden und „wüst“ fielen.

Je nach Zeitstellung und Umständen der historischen Begebenheiten kann es aus heutiger Sicht mitunter Schwierigkeiten bereiten, die genauen Standorte ehemaliger Siedlungsorte zu ermitteln. Die Anzahl der bekannten und lokalisierbaren Ortswüstungen im Raum Celle ist überschaubar. Aufhorchen lässt daher ein Beitrag des Lehrers und ehemaligen Rektors der Celler Mittelschule, Friedrich Barenscheer, der am 19. April 1972 im Sachsenspiegel in der Celleschen Zeitung erschien. Barenscheer berichtete darin von den Nachforschungen zu der Wüstung Bagehorn im Lüßwald bei Unterlüß.

Bild: Beitrag im Sachsenspiegel. Quelle: Barenscheer, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1979.

Die Geschichte begann mit einer Anfrage des Alfonso Gall-Bagehorn an die Gemeinde Unterlüß im Oktober 1971. Der damals in Spanien wohnhafte Gall-Bagehorn interessierte sich für die Herkunft seiner Familie mütterlicherseits. In seinen Briefen an den Unterlüßer Bürgermeister und an Friedrich Barenscheer beschrieb er, dass er in den Dreißigerjahren eine Auskunft erhalten habe, wonach sich einst ein Hof Bagehorn im Gebiet von Unterlüß befunden haben soll.[1] 

Alfonso Gall-Bagehorn gab an, diese Information erhalten zu haben, als er Inhaber eines Exportgeschäftes in Hamburg gewesen sei und wie alle Selbstständigen den sogenannten „Ariernachweis“ zu erbringen hatte. Um seinen pflichtgemäßen Abstammungsnachweis entsprechend der nationalsozialistischen Vorgaben zu erbringen, setzte sich Gall-Bagehorn demzufolge intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander.

Wie er in seinen Schreiben angab, nutzte Gall-Bagehorn die damals populäre Tageszeitung „Hamburger Fremdenblatt“ für eine Anfrage nach der Herkunft seines Familiennamens. Die hierauf erteilte Auskunft, dass der Name auf einen ehemaligen Bauernhof im Bereich von Unterlüß zurückzuführen sei, veranlasste ihn, sich hierzu gegen Anfang der Siebzigerjahre vor Ort weitergehende Erkundigungen anzustellen. Insbesondere interessierte er sich dafür, ob evtl. ein alter Flurname auf den Standort des ehemaligen Gehöfts hindeuten würde.

Friedrich Barenscheer hatte sich intensiv mit der regionalen Flurnamenforschung auseinandergesetzt.[2]Er setzte den Familiennamen Bagehorn mit der tradierten Flurbezeichnung Bogenhorn östlich von Unterlüß in Verbindung.[3] Eine Ortsbegehung unter Unterstützung des Oberforstmeisters Bretschneider erbrachte für Barenscheer weitere Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wüstung Bagehorn südwestlich der heutigen Siedlung Lünsholz befunden haben müsste. Dort konnten die Ausläufer des trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, eines Vorläufers der Aschau, entdeckt werden. In diesem Bereich verortete Barenscheer schlussendlich die Wüstung Bagehorn. Obwohl er sich durchaus verwundert darüber zeigte, dass bis dahin „heimische Forscher (...) die Wüstung nicht entdeckt“ hätten, konstatierte er, dass „an dem Vorkommen des Hofes Bagehorn kein Zweifel“ bestehen könne. [4]

Bild: bis heute ist das Urstromtal des Drellebachs im Gelände sichtbar. Quelle: H. Altmann, 2023.

In der 1996 erschienenen Gemeindechronik von Unterlüß kam Jürgen Gedicke allerdings zu dem Schluss, dass sich keine hinlänglichen Beweise für eine bäuerliche Siedlung Bagehorn fänden ließen.[5] Er schlussfolgerte stattdessen, dass sich in dem Bereich der vermeintlichen Wüstung – rund vier Kilometer westlich entfernt vom herzoglichen Jagdschloss in Weyhausen – einst eine Hetzschanze und eine Unterkunft für die Treiber aus den umliegenden Dörfern befunden haben könnte. Die Aufgabe der Treiber war es, das Wild in die unmittelbare Nähe der Jagdgesellschaften zu treiben. Gedickes Einschätzung ging vermutlich nicht zuletzt auf die Darstellungen von Paul Paschke zurück, der den Flurnamen Haßloh ebenfalls mit eine solchen jagdlichen Einrichtung in Zusammenhang gesetzt hatte. [6]

Bild: Rubrik "Briefkasten". Quelle: Hamburger Fremdenblatt, Abendausgabe, Jg. 109, Ausgabe 262, 22.09.1937, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky.

Die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse belegen, dass die Angaben des Alfonso Gall-Bagehorn als plausibel einzustufen sind. Gall-Bagehorn – mit vollem Namen: Sebastian José Alfonso Gall von Bagehorn – wurde Mitte der Dreißigerjahre Einzelprokura in einem Hamburger Kaufmannsbetrieb eingeräumt.[7] Gall-Bagehorn hatte angegeben die Information zu dem aufgegeben Gehöft bei Unterlüß über den „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts erhalten zu haben. Der „Briefkasten“ war eine fest etablierte Rubrik im Hamburger Fremdenblatt. Abonnenten der Zeitung konnten darin alle möglichen Fragen platzieren, um in den Folgeausgaben hierzu Antworten von der Redaktion zu erhalten.

Es ist festzustellen, dass sich die Anzahl der familiengeschichtlichen Anfragen im „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts nach Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze[8] ab 1935 merklich steigerten. Allerdings konnte sich Gall-Bagehorn nicht an das genaue Erscheinungsdatum der Auskunft zu seiner Anfrage erinnern – auch Friedrich Barenscheer gelang es nicht, den Verfasser der Information zur Wüstung Bagehorn des „Briefkastens“ ausfindig zu machen. Die Recherchemöglichkeiten haben sich seit 1972 jedoch erheblich verbessert. Inzwischen liegt das Hamburger Fremdenblatt vollständig digitalisiert vor. Trotz der früher verwendeten Frakturschrift ist mit wenigen Eingaben eine Volltextsuche in allen verfügbaren Ausgaben der Zeitung möglich.

Am 22. September 1937 erschien tatsächlich ein Hinweis auf den Ortsnamen Bagehorn im Briefkasten des Hamburger Fremdenblatts. Die damals gestellte Anfrage richtete sich jedoch auf die Bedeutung der Familienname Penzhorn und Misselhorn. Unter Verweis darauf, dass der Name Misselhorn an der Landstraße zwischen Hermannsburg und Unterlüß vertreten ist, wurde ebenfalls der Name Bagehorn als ein Beispiel für einen Familiennamen in der Lüneburger Heide genannt, der aus einem Ortsnamen hervorgegangen sei.[9] 

Sonstige Einträge zu Bagehorn sind in den Ausgaben des Hamburger Fremdenblatts in den Dreißigerjahren nicht erschienen. Unter Umständen kam es zu einer Ortsverwechselung, auf der dann auch die anschließenden Nachforschungen Barenscheers aufbauten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der mutmaßliche Hinweis auf die Ortswüstung „Bagehorn“ und auch die etymologische Ableitung durch Barenscheer von „Bagehorn“ auf „Bogenhorn“ standhalten, ergibt sich weiterer Klärungsbedarf.

Bild: Lüßkuhle unmittelbar nördlich von Lünsholz. Quelle: H. Altmann, 2023.

Insbesondere ist fraglich, ob die Lokalisierung der vermeintlichen Ortswüstung zutreffen kann. Hierfür wäre zunächst zu klären, wo genau sich die Flur „Bogenhorn“ einst befand. Barenscheer stellte fest, dass die Flur auf der Kreiskarte als Beilage zum Speicher[10] „irrtümlich nördlich der Straße“ zwischen Weyhausen und Unterlüß angegeben worden sei.[11] 

Dabei verließ er sich offenbar auf die Eintragung des „Bogenhorn“ im Jagen 80 in der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899. Der Abgleich von georeferenzierten historischen Karten und die Auswertung moderner Laserscanaufnahmen zeigt jedoch, dass es nicht so einfach ist, den genauen Standort der Flur „Bogenhorn“ zu ermitteln.

Bild: Lüßberg - ehemals "Fahlen Berg". Quelle: H. Altmann, 2023.

Laut der Kurhannoverschen Landesaufnahme, aufgenommen durch Offiziere des hannoverschen Ingenieurskorps im Jahr 1777, liegt die Flur Bogenhorn eindeutig nördlich der später errichteten Straße zwischen Weyhausen und Unterlüß.[12] Die bezeichnete Stelle liegt hiernach nordöstlich der ebenfalls eingetragenen Lüßkuhle, unmittelbar am Fahlen Berg.

Dieser wird in späteren Kartenwerken zwar nicht mehr als solcher aufgeführt – an seiner Stelle wurde fortan jedoch der Lüßberg verzeichnet. Die Lüßkuhle ist bis heute im Gelände als natürliche Senke auffindbar. Bemerkenswert ist, dass in der Karte von 1777 südlich der Lüßkuhle die Flurnamen Kempelhorn und Auf der Warte verzeichnet sind.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Kurhannoversche Landesaufnahme 1777, Blätter Hermannsburg und Holdenstedt, Google Earth.

Im Atlas von Papen aus dem Jahre 1831 tauchen die Flurbezeichnungen nicht auf. Erst in einer Spezialkarte des ehemaligen Forstreviers Dalle aus dem Jahr 1848 treten die Flurbezeichnungen Bogenhorn und Kempelhorn wieder in Erscheinung. Zu bemerken ist, dass die Flurbezeichnung Kempelhorn laut dieser Karte deutlich weiter nördlich eingetragen worden ist und die Bezeichnung des Bogenhorn weiter südlich. Beide Flurnamen befinden sich laut der Karte von 1848 ungefähr auf gleicher Höhe. 

Die seltsame Wanderung der Flurnamen scheint sich in Hinblick auf spätere Kartenwerke fortzusetzen. In der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899 ist die Flur Kempelhorn bereits unmittelbar nördlich von Lünsholz und etwas südlich der Lüßkuhle zu finden. Die Flurbezeichnung Bogenhorn war noch weiter nach Süden verlegt worden und befand sich nun im Bereich jenes trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, wo Barenscheer schließlich die vermeintliche Wüstung Bagehorn platzierte.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Karte des Deutschen Reiches 1:100.000, Google Earth.

Die Genese der Flurnamen ist beachtenswert. Das Kempelhorn „wanderte“ im Laufe von rund 120 Jahren etwa zwei Kilometer in nördliche Richtung – das Bogenhorn schaffe es dagegen sogar rund zweieinhalb Kilometer in den Süden. Ursächlich mag gewesen sein, dass in der Gegend nur wenige markante Fixpunkte existierten, an denen sich die Flurbezeichnungen hätten richten können. 

Diese Entwicklung zeigt jedoch, dass die Flurnamen nur begrenzt Aufschluss über den Standort der mutmaßlichen Wüstung geben. Die Geländebeobachtungen Barenscheers können somit keine Lokalisierung der vermeintlichen Wüstung liefern, da diese – sofern sie tatsächlich mit dem Flurnamen Bogenhorn zusammenhängt – sehr wahrscheinlich weiter nördlich lag.

Bild: Abfall des Geländes im Bereich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Die vermeintlich als „Bogenhorn“ identifizierte Stelle wird in der Kurhannoverschen Landesaufnahme als „Auf der Warte“ bezeichnet. In Zusammenhang mit der markanten Geländeformation könnte es sich hierbei möglicherweise dennoch um eine interessante historische Stelle handeln. 

Als „Warten“ bezeichnete Bereiche waren in früherer Zeit nicht selten die Standorte vorgeschobener (militärischer) Beobachtungsposten. Tatsächlich liegt in unmittelbarer Nähe zu dieser Örtlichkeit eine markante rechteckige Schanze, deren historische Bestimmung bislang noch nicht geklärt werden konnte. Die Flur „Auf der Warte“ befindet sich auf einer beachtlichen Geländeanhöhe, was die Annahme eines Beobachtungspunktes stützen könnte.

Bild: Relikte einer rechteckigen Schanze südlich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Ob der Familienname Bagehorn auf einen wüst gefallenen Bauernhof im Lüßwald zurückgeht, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Ausgeschlossen wäre die Existenz einer Wüstung im Lüßwald wohl zwar nicht – Urkundenbücher, Zins-, Lehn- und Viehschatzregister sowie auch sonstige historische Quellen geben diesbezüglich jedoch keinerlei Hinweise.[13] Mythen, Sagen und Legenden zu einem untergegangenen Gehöft in dieser Gegend sind bislang nicht bekannt geworden. 

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass in Bezug auf die mutmaßliche Wüstung Bagehorn lediglich eine Verwechselung vorliegen sollte, so hält der Lüßwald sicherlich noch viele spannende Entdeckungen bereit.

Hendrik Altmann

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[1] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel Jg. 31, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[2] Alpers/Barenscher, Celler Flurnamenbuch, 1952.
[3] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[4] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[5] Gedicke, Chronik der Gemeinde Unterlüß, Bd. 1, S. 189.
[6] Paschke, Der Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 05.03.1932.
[7] Hamburger Fremdenblatt v. 16.05.1935, Eintragungen in das Handelsregister v. 14.05.1935.
[8] RGBl. Teil I, Nr. 100 v. 16.09.1935.
[9] Hamburger Fremdenblatt, Briefkasten, Abendausgabe v. 22.09.1937.
[10] Helmke/Hohle, Der Speicher, 1930.
[11] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[12] Kurhannoversche Landesaufnahme des 18. Jahrhunderts, Blatt Nr. 91, 92 Hermannsburg/Holdenstedt, 1777.
[13] Dolle/Flöer, Die Ortsnamen des Landkreises Celle, 2023.