f Heimatforschung im Landkreis Celle

Donnerstag, 18. Juli 2024

Von Norden rollt ein Donner – Rezension


Als seichte Lektüre kann der zweite Roman von Markus ThielemannVon Norden rollt ein Donner“ sicher nicht bezeichnet werden. Bildgewaltig beschreibt der junge Autor die Heidelandschaft, die seinem neusten Werk eine nur scheinbar harmonische Kulisse bietet. 

Angesiedelt ist die Handlung des Buches zwischen Unterlüß, Faßberg, Lutterloh und Hermannsburg. Anhand der im Buch beschriebenen Nähe zum Schießplatz der Firma Rheinmetall, den alten Kieselgurgruben und Mauerresten, die sehr sicher zum ehemaligen Tannenberglager bei Altensothrieth gehören, lässt sich der Handlungsort unmittelbar auf die Südheide eingrenzen.

Seinen Protagonisten, den 19-Jährigen Heideschäfer Jannes Kohlmeyer, lässt der Autor symbolkräftig mit der Herde und den Hütehunden durch die traditionsreiche Gegend ziehen. Das stimmige Narrativ ist aufgebaut, um sogleich zerstört zu werden. Auf dem Hof, den Jannes mit seinem Großvater, seiner Mutter und seinem Stiefvater bewirtschaftet, herrschen familiäre Spannungen. Sie rühren aus früheren Zeiten – Ereignisse der Gegenwart führen schließlich zur Zerreißprobe: der Wolf ist zurück.

Es wäre jedoch zu platt, den Umfang der Erzählung auf die Bedrohung durch das Raubtier zu reduzieren. Die Vergangenheit sucht Jannes heim. Er hinterfragt, erhält jedoch selten zufriedenstellende Antworten – weder von seiner dementen Großmutter, noch von seinem Großvater, der meist nur über seine ganz eigene Auffassung "von früher" berichtet. Ein Riss in der Geschichte, der unüberbrückbar erscheint. In mehreren Spannungsbögen steigert sich die Handlung – phasenweise treten das Raubtier und düstere Schatten aus alten Zeiten ans Licht.

Das Buch überzeugt durch authentische Beschreibungen alltäglicher Situationen. Sprachfertig und stimmig werden die klassisch wortkargen Dialoge auf dem Heidehof treffsicher auf den Punkt gebracht. Bewusste Lücken in den Spannungsphasen stacheln die eigene Phantasie an. Die traditionell romantisierte Wahrnehmung der Heimat wird gekonnt konterkariert. Abseits der Heidelandschaft, wie sie Touristen auf ihren Kutschfahrten erleben, zeigt der Autor das gesamte Spektrum auf. 

Thielemann holt seine Leser ab, konfrontiert sie und erspart es ihnen nicht, sich eigenständig Gedanken zu machen. Insgesamt ein sehr gelungenes Werk.

H. Altmann



Dienstag, 7. Mai 2024

Lager Krümme - neuer Gedenkort bei Wesendorf angestrebt

 

Zuletzt wurde der Straßenabzweig "an der Krümme" im Bereich der Bundesstraße 4 bei Wesendorf/Wagenhoff vor allem wegen des neu errichteten Kreisverkehrs des Öfteren in der Presse genannt. Bis April 1945 befand sich in unmittelbarer Nähe das sogenannte Lager Krümme. Kürzlich wurden im Wesendorfer Gemeinderat Vorschläge für einen neuen Gedenkort diskutiert. 

Vor Ort erinnert fast nichts mehr an die Infrastruktur des ehemaligen Gemeinschaftslagers Krümme. Es handelte sich hierbei um ein bewachtes Barackenlager, in dem Häftlinge der Zuchthäuser Wolfenbüttel und Celle untergebracht waren. 

Die Zustände im Lager Krümme waren entsetzlich - dies ist quellenseitig belegt. Zu schwerster körperlicher Arbeit auf den Baustellen des nahegelegenen Fliegerhorstes verpflichtet, litten die Häftlinge unter unvorstellbaren Bedingungen. Sie waren der rauen Witterung, mangelhafter Ernährung sowie der willkürlichen Behandlung durch die Wachmannschaften ausgesetzt. 

Es handelte sich überwiegend um politische Zuchthausgefangene. Vergehen, wie unter anderem das Lesen feindlicher Propaganda oder das Hören feindlicher Radiosender, brachten den Gefangenen jahrelange Zuchthausstrafen ein. Zahlreiche von ihnen starben in den Jahren 1944/1945. Nicht selten finden sich in den Sterbeunterlagen Hinweise, dass junge Männer an "Herzschwäche" oder "allgemeiner Körperschwäche" verstorben seien. 

Bild: Auszug Liste Celler Zuchthausgefangener. Quelle: Arolsen Archives, Listenmaterial Gruppe PP, Signatur 8182800. 

In den letzten Kriegswochen verschlimmerten sich die Zustände im Lager Krümme zunehmend. Evakuierungstransporte aus anderen Haftstätten trugen maßgeblich dazu bei, dass die ohnehin mangelhafte Versorgung stetig desaströser wurde. Berichte des zuständigen Arztes im Wolfenbüttler Zuchthaus schildern Grauenvolles. 

Zur Rechenschaft gezogen wurden weder die Bewacher unmittelbar vor Ort, noch diejenigen Führungspersonen, die im Bewusstsein der schrecklichen Zustände stetig weitere Transporte in das überfüllte Lager überstellten. Auch die involvierten Baufirmen, die sich damals die Arbeitskraft der Häftlinge zunutze machten, blieben unbehelligt. 

Bild: Auszug einer Rechnung der Fa. Thiele Marahrens, in der das Unternehmen über geleistete Arbeitsstunden der eingesetzten Häftlinge gegenüber der Oberbauleitung abrechnete. Quelle: Bundesarchiv, R 50/I, 687, 51. 

Vom einstigen Lager Krümme und den alten Baustellen sind nur noch bei genauem Hinsehen vereinzelte Spuren zu erkennen. Das Lager und seine Geschichte gerieten in Vergessenheit. Im Zuge der aktuellen Recherchen zum Buch "Der Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen" konnten die historischen Zusammenhänge erstmals umfassend aufgearbeitet werden. 

Bild: Relikte der ehemaligen Baustelle im Bereich der alten Rollbahn. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Wie zuerst die Aller-Zeitung berichtete, hat der Wesendorfer Gemeinderat kürzlich einstimmig beschlossen, dass ein Gedenkort für die Opfer des Lagers Krümme umgesetzt werden soll. Details zu der Angelegenheit sind der zugrundeliegenden Beschlussvorlage zum Vorschlag zur Einrichtung einer Gedenkstätte an das "Lager Krümme" zu entnehmen. 

Zunächst müsste ein geeignetes Grundstück, mit Bezug zu den historischen Ereignissen, gefunden werden. In diesem Zusammenhang wurde sich darauf verständigt, die Sache entsprechend der Beschlussvorlage weiter zu verfolgen. Abstimmungen mit der Gemeinde Wagenhoff und der Samtgemeinde Wesendorf sollen folgen. 

Aus der Beschlussvorlage geht hervor, dass das Vorhaben verwaltungsseitig unterstützt wird. 

Bild: Buchcover. Quelle: H. Altmann. 


H. Altmann


Mittwoch, 17. April 2024

Hakenkreuz-Graffitis im Neustädter Holz aufgetaucht


Es waren schreckliche Szenen, die sich am 8. April 1945 und den Folgetagen im westlichen Celler Stadtgebiet zugetragen haben. Die Ereignisse des Luftangriffs auf den Celler Güterbahnhof und die anschließenden Hetzjagden auf KZ-Häftlinge wurden bereits mehrfach untersucht.[1] Ausgerechnet an einem einstigen Tatort sind Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis aufgetaucht.

Das Neustädter Holz bei Celle wirkt wie ein gewöhnliches Waldgebiet. Nichts deutet vor Ort auf jene Ereignisse hin, die später euphemistisch als „Hasenjagd“ betitelt wurden. Es handelte sich um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in unmittelbarer Stadtnähe verübt und nie abschließend aufgeklärt worden sind.

Der wissenschaftliche Forschungsstand zu den Ereignissen ist in der Ausarbeitung „Celle April 1945 revisited“ von Bernhard Strebel umfassend dokumentiert worden.[2] Die wesentlichen Abläufe des 8. April 1945 lassen sich wie folgt zusammenfassen: in den frühen Abendstunden jenes Tages näherten sich mehrere Bomberstaffeln der 9. US Air Force der Stadt Celle. Zuvor waren bereits Luftangriffe auf Nienhagen erfolgt. Bei der Bombardierung des Güterbahnhofs wurde ein Transportzug mit KZ-Häftlingen getroffen, die aus den Außenlagern Drütte und Salzgitter-Bad des KZ Neuengamme sowie aus dem Außenlager Holzen des KZ Buchenwald stammten. 

Auf KZ-Häftlinge, die diesem Inferno entfliehen konnten, machten die Wachmannschaften des Transports sowie in Celle stationierte Einheiten der Waffen-SS, der Wehrmacht sowie Schutzpolizisten, Zivilisten und Einzelaussagen zufolge auch Angehörige des Volkssturms sowie der Hitlerjugend Jagd. Es kam zu massiven Ausschreitungen und Misshandlungen – bis hin zu Erschießungen. Lückenlos aufgeklärt wurden die Geschehnisse – unter anderem aufgrund der stark fragmentierten Quellenlage – bis heute nicht.

Bild: Three Martin B-26 Marauders Aim Fresh Blows At The Nienhagen, Germany Oil Refinery Obscured By Thick Smoke From Previous Hits By 9Th Bombardment Division. Quelle: www.Fol3.com, NARA Reference: 342-FH-3A22118-57133AC, published with permission of Fold3.com

Insbesondere eine Massenerschießung – verübt durch Celler Schutzpolizisten – wirft bis heute Fragen auf. Aus den Ermittlungsakten des sogenannten „Celle Massacre Trial“, den die britische Kontroll-Kommission zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach Kriegsende anstrengte, geht hervor, dass sich das Ereignis in einem als „Mulde“ bezeichneten Ort im Neustädter Holz[3], zugetragen haben soll. Es handelt sich hierbei um denselben Ort, in dessen unmittelbarer Nähe heute Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil-Hitler“-Graffitis zu finden sind. Auf der Suche nach möglichen Hintergründen ist es zunächst erforderlich, die historischen Abläufe näher zu betrachten und hierbei auch die Ortsbezeichnung „Mulde“ zu lokalisieren.

Handfeste Hinweise liefern diesbezüglich die britischen Ermittlungen im Zuge des „Celle Massacre Trial“. Ins Rollen gebracht wurden diese durch eine freiwillige Aussage des deutschen Kriegsgefangenen Eberhard Streland, der sich als Angehöriger der Nebeltruppe im April 1945 zu einem Lehrgang in Celle befunden hatte.[4] Streland berichtete über die Erschießung von KZ-Gefangenen im Celler Wehrkreis, die sich in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1945 im Zuge einer Durchkämmung des Neustädter Holzes ereignet hatte. 

Die anschließenden Ermittlungen konzentrierten sich vornehmlich nicht auf die Befehlsgeber, sondern vorrangig auf die unmittelbaren Täter.[5] Einen Schwerpunkt bildeten hierbei unter anderem die Aussagen der Celler Polizisten Jakob Decker, Otto Schwandt, Albert Sievert und Helmut Ahlborn. Deren Aussagen entstanden vor dem Hintergrund jeweils unterschiedlichen Verteidigungsstrategien im Gerichtsverfahren. Dennoch enthalten die Aussagen auch überschneidende Informationen, die für eine Lokalisierung der Tatorte herangezogen werden können.

Quelle: Plan der Stadt Celle, 1935. 

In wesentlichen Punkten übereinstimmend beschrieben die Beschuldigten das damalige Szenario. Nach dem schweren Luftangriff am frühen Abend des 8. April 1945 wurde die Celler Polizei alarmiert – auf dem Weg zum Einsatzgebiet erhielten der spätere Einsatzleiter und sein Vertreter Sievert im Gebäude der Kreisleitung der NSDAP in der Trift 20 konkretere Instruktionen.[6] Ihnen sei insbesondere mitgeteilt worden, dass es durch das Entweichen der KZ-Häftlinge zu Plünderungen gekommen sei – die Flüchtigen hätten sich zudem Waffen beschafft.[7] Der Einsatz zur Befreiung des Bereichs sei daher mit allen nötigen Mitteln zu bewerkstelligen – von der Schusswaffe sollte rücksichtsloser Gebrauch gemacht werden.[8] 

Dass es zu nennenswerten Gefechten zwischen KZ-Häftlingen und den eingesetzten deutschen Einheiten kam, ist zweifelhaft. Zwar berichtete der kommandierende Generalmajor Paul Tzschöckell später ebenfalls von Kampfhandlungen, bei denen sogar ein Panzerfahrzeug der Heeresgasschutzschule eingesetzt worden sein soll.[9] Allerdings dürfte es sich bei der grundsätzlichen Aussage, es habe eine angebliche Gefechtssituation vorgelegen, vor allem um eine Schutzbehauptung gehandelt haben. Diese sollte letztlich dazu dienen die massiven Ausschreitungen gegen die KZ-Häftlinge nachträglich zu rechtfertigen.[10]

Zusammen mit Einheiten der Wehrmacht sowie der SS begannen die Polizisten das Neustädter Holz in Höhe des Waldwegs nach entwichenen Häftlingen zu durchkämmen. Den Aussagen der beteiligten Polizeibeamten zufolge kam es im Zuge dieser Maßnahme dazu, dass die SS am Sammelpunkt „Unter den Eichen“ mehrere Häftlinge an die Celler Polizisten übergab. Otto Schwandt gab im Rahmen späterer Ermittlungen an, dass es sich hierbei um eine Gruppe von ca. 25 bis 30 KZ-Häftlingen gehandelt habe.[11] Helmut Ahlborn, der angab an diesem Abend vom Sammelpunkt „Unter den Eichen“ zu mehreren Einsätzen abgerückt und wieder dorthin zurückgekehrt zu sein, beschrieb, dass ein SS-Mann erwähnt habe, er hätte die Häftlinge an Ort und Stelle liegen gelassen – es hätte sich um Plünderer gehandelt.[12]

In den Darstellungen der Beteiligten taucht immer wieder die Aussage auf, dass es sich bei den später erschossenen Häftlingen um Plünderer gehandelt habe. Zutreffend ist, dass offenbar einige KZ-Häftlinge versuchten sich in Häusern der Celler Bevölkerung mit Zivilkleidung und Nahrungsmitteln zu versorgen. Es trifft ebenfalls zu, dass für Diebstahlsdelikte während ausgegebenen Luftalarms schwere Strafen drohten. Jedoch wird die Behauptung, dass alle später erschossenen KZ-Häftlinge Plünderer gewesen seien, bereits dadurch relativiert, dass die Beschuldigten später zugaben diese Information selber nur durch mündliche Berichte erhalten zu haben. In keinem einzigen Fall wurden die vermeintlichen Plünderer bei der vermeintlichen Tatbegehung beobachtet oder dabei gestellt. Selbst im Falle einer eindeutigen Beweislage wäre eine standrechtliche Erschießung unverhältnismäßig gewesen. Vermutlich beriefen sich die Beschuldigten auch meistens deswegen darauf, dass sie die Befehle von vorgesetzten Stellen erhalten hätten, die hierfür die Verantwortung zu tragen hätten.

Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Einheiten der Polizei sowie der SS mit mehreren KZ-Häftlingen am Sammelpunkt „Unter den Eichen“ einfanden, waren aussagegemäß jedenfalls noch keine Erschießungen durch die Celler Polizisten durchgeführt worden. Am Sammelpunkt angekommen erhielten diese jedoch – angeblich von einem Soldaten der SS – den Befehl eine Gruppe von 30 – 40 KZ-Häftlingen zu übernehmen und diese zu erschießen.[13] Auch der Polizist Albert Sievert sagte später aus, dass sein Kollege, Otto Schwandt, eine entsprechende Order von einem SS-Hauptsturmführer erhalten habe.[14] Den Aussagen nach habe ein SS-Hauptsturmführer dem zuständigen Polizeibeamten Schwandt mitgeteilt, dass die betreffenden KZ-Häftlinge Plünderer seien und Waffen bei sich getragen hätten. Daher habe der General befohlen, dass sie zu erschießen seien.[15] 

Gemeint sein kann hierbei eigentlich nur der Generalmajor und Celler Stadtkommandant Paul Tzschöckell.[16] Laut eigener Aussage von Schwandt habe jener SS-Hauptsturmführer seinen Namen notiert – hierdurch befürchtete Schwandt persönliche Nachteile, sofern er den Befehlen keine Folge leisten würde. Der Aussage von Sievert nach habe Schwandt sogar angeblich noch gegen den Erschießungsbefehl protestiert – ihm seien jedoch daraufhin Konsequenzen angedroht worden.[17]

Letztlich gab Schwandt den Befehl an die ihm untergebenen Polizeibeamten weiter, dass die Gruppe der KZ-Häftlinge weiter in das Neustädter Holz zu führen sei. Die bewachte Gruppe der KZ-Häftlinge wurde entlang des zivilen Schießstandes in Richtung der Militärschießstände im Neustädter Holz getrieben.[18] Links hinter dem Schützenschießstand bog die Kolonne ab.[19] Laut Sievert befahl Schwandt, die KZ-Häftlinge in eine Geländevertiefung beim Schießtand zu bringen.[20] Der Schützenschießstand war damals noch etwas länger – vermutlich wurde die Schießbahn erst Mitte der 1980er Jahren verkürzt, wie entsprechende Karten nahelegen.

Quelle: Ausschnitte topografischer Karten 1:25.000. Zu erkennen ist die Lage des Schützenschießstandes im Neustädter Holz. Dieser war früher noch länger und wurde später gekürzt. Hinter dem Schießstand befand sich der als "Mulde" beschriebene Platz, an den die KZ-Häftlinge erschossen werden sollten. 

Im Zuge seiner Vernehmung fertigte Ahlborn zudem präzise Handskizzen, die den genauen Standort der Geländemulde angeben und darüber hinaus Angaben zu den Abläufen enthalten. Ihm zufolge ordnete Sievert an, dass sich die Häftlinge bäuchlings auf den Boden zu legen hätten.[21] Sieverts eigene Aussage bestätigt dies nicht – ebenso nicht die von Jakob Decker. Schwandt bestätigte zumindest indirekt, dass die KZ-Häftlinge gesessen oder gelegen haben müssen.[22] 

Als Schwandt die ihm unterstellten Polizeibeamten schließlich über den Schießbefehl informierte, protestierten einige offenbar lautstark dagegen.[23] Scheinbar hörten dies auch die KZ-Häftlinge – sie sprangen auf und liefen in verschiedene Richtungen davon, so berichtete Schwandt in einer späteren Vernehmung.[24]

Quelle: abgepauste Handskizze - im Orig. gezeichnet durch Helmut Ahlborn (WO 208/4666). Die Skizze zeigt die Lage der Mulde hinter dem Schützenschießstand im Neustädter Holz. In diesem Bereich fanden laut den Vernehmungsprotokollen die Erschießungen statt. 

Die Polizisten eröffneten daraufhin das Feuer auf die Flüchtenden und verfolgten diese. Decker gab später an, dass er anschließend 20 – 30 tote Häftlinge in der Mulde liegen sah.[25] Er selber sei jedoch nicht an der Erschießung beteiligt gewesen und habe sich währenddessen abseits aufgehalten. Der Celler Polizeichef, Major Hermann Oetzmann, habe die beteiligten Polizeibeamten in einer anschließenden Besprechung zu absolutem Stillschweigen über diese Ereignisse verpflichtet – die Toten sollten unverzüglich bestattet werden.[26]

Inwiefern sich die Ereignisse damals tatsächlich genau so zugetragen haben, lässt sich auf Grundlage der wenigen verfügbaren Quellen nicht mehr klären. Die teils widersprüchlichen Einzelaussagen liefern sicher kein objektives Bild der Geschehnisse, wie Strebel bereits konstatierte.[27] Dies verwundert wenig, da die Aussagen nicht zum Zwecke einer vollständigen Aufklärung der Ereignisse getätigt wurden, sondern vielmehr aus individuellen Interessen, um einer möglichen Bestrafung zu entgehen. 

Nicht alle offenen Fragen konnten daher im Rahmen des „Celle Massacre Trial“ unmittelbar nach Kriegsende aufgeklärt werden. Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 8. April 1945 dauerte sehr lange.[28] Mit seiner umfangreichen Veröffentlichung leistete Strebel diesbezüglich einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zur lokalhistorischen Aufarbeitung. Der praktische Umgang mit der Geschichte blieb jedoch ungeklärt.

Bild: Geländemulde hinter dem Schützenschießstand nördlich des Lönswegs heute. Quelle: H. Altmann. 

Bereits im November 2007 lehnten CDU und FDP-Vertreter im Kulturausschuss des Rates der Stadt Celle einen Antrag der Grünen ab, der die Errichtung von zwei Gedenktafeln für die Opfer des Bombenangriffs des 8. April 1945 in Neuenhäusen vorgesehen hatte.[29] Stattdessen brachte die CDU ihren Vorschlag vor, eine langfristige Ausstellung in Erinnerung an die Ereignisse zu realisieren.[30] Fundstücke und Materialien, mit denen man einen solchen Erinnerungsort ausstatten hätte können, waren genug vorhanden. Bei den Bauarbeiten im Rahmen der Verlängerung der Biermannstraße wurden im Bereich des Güterbahnhofs in zugeschütteten Bombenkratern eine große Menge von Funden geborgen, die unmittelbar mit dem 8. April 1945 in Verbindung gebracht werden konnten.[31] 

Realisiert wurden jedoch weder die Gedenktafeln noch die Ausstellung bzw. ein entsprechender Erinnerungsort. Sicherlich ein Grund dafür: damals verfügte Celle bereits längst ein entsprechendes Mahnmal – am 7. April 1992 war dieses in den Celler Triftanlagen eingeweiht worden. Obgleich an der Umsetzung begründete Kritik geäußert wurde, blieb es letztlich dabei.[32] War/ist das Kapitel der Aufarbeitung damit abgeschlossen? Wohl eher nicht, wie die jüngsten Ereignisse nahelegen.

Bild: Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis unmittelbar neben der Geländemulde. Quelle: H. Altmann. 

Unmittelbar neben der Geländemulde nördlich des Lönsweges sind deutlich erkennbare Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis an mehreren Bäumen angebracht worden. Der Gesamteindruck sieht ziemlich stümperhaft aus – insbesondere deshalb, weil die Hakenkreuze falsch herum gesprayt wurden. 

Es könnte natürlich ein Zufall sein, dass diese Schmierereien ausgerechnet an einem Ort angebracht worden sind, an dem in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1945 eine Gruppe von KZ-Häftlingen zur Erschießung gebracht worden ist. Eventuell wussten die Verantwortlichen für die Schmierereien hiervon nichts. Dies könnte unter anderem auch daran liegen, dass vor Ort überhaupt nichts an die einstigen Geschehnisse erinnert bzw. darüber objektiv informiert.

Bild: Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis unmittelbar neben der Geländemulde. Quelle: H. Altmann. 

Es lässt sich festhalten, dass die Aufarbeitung der Geschehnisse des 8. April 1945 sowie seiner Folgetage längst noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Dass an einem derart sensiblen Ort, wie der Geländemulde im Neustädter Holz, in der damals KZ-Häftlinge zur Erschießung gebracht worden sind, heute Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis vorzufinden sind, ist nicht hinnehmbar. 

Es ist ganz offensichtlich bis heute versäumt worden, derartige Orte, die mit dem 8. April 1945 in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, in ein – wie auch immer ausgestaltetes – öffentliches Gedenkkonzept einzubinden.

H. Altmann

Stand: 17.04.2024
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[1] U.a.: Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte; Bertram, April 1945 – Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der KZ-Häftlinge aus Drütte, in: Schriftenreihe des Stadtarchivs Celle und des Celler Bohmann-Museums; Wegener, Erforschung eines Kriegsverbrechens, in: Cellesche Zeitung, 04.04.2020; Altmann, Bomber über Celle, in: Cellesche Zeitung v. 10.04.2021.

[2] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 12 ff.

[3] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 68.

[4] Aussage Streland v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[5] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 86.

[6] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[7] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[8] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[9] Tzschöckell, Schicksalstage in der Heide, CZ v. 05.05.1950.

[10] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 59 ff.

[11] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[12] Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[13] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[14] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[15] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[16] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 95.

[17] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[18] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[19] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[20] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[21] Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[22] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[23] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133; Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666; Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[24] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[25] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[26] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[27] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 16 ff.

Wegener, Erforschung eines Kriegsverbrechens, in: Cellesche Zeitung, 04.04.2020.

[29] Cellesche Zeitung v. 23.11.2007.

[30] Cellesche Zeitung v. 23.11.2007.

[31] Cellesche Zeitung v. 15.11.2006.

[32] Rohde, 25 Jahre Mahnmal für die Opfer des 8. April 1945 in den Triftanlagen / „Celler Platte“ oder „zeitlos mahnend“, in: revista Nr. 84 April/Mai 2017, S. 20-23.


Samstag, 23. Dezember 2023

Abenteuerliche Suche nach der Wüstung Bagehorn im Lüßwald


Historische Karten belegen, dass die Landschaft zwischen Eschede und Hösseringen in den letzten Jahrhunderten nur spärlich besiedelt war. Für ältere Zeiten fehlen schriftliche Belege für weitere Siedlungen ebenso. Dennoch wurde die Annahme begründet, dass sich in diesem Bereich einst die ehemalige Siedlung „Bagehorn“ befunden haben könnte. Eine Zusammenfassung und aktuelle Forschungsansätze.

In Hinblick auf Dorfwüstungen, also aufgegebene Siedlungen, schwingt häufig eine gewisse Schwere der Geschichte mit. Was mag die Bewohner im Einzelfall zu ihrer Aufgabe bewogen haben? Welche Schicksale mögen sich zugetragen haben? Kriege, Krankheiten, wirtschaftliche Faktoren und weitere Einflüsse werden regelmäßig als Ursachen für die Entstehung von Wüstungen benannt. In einigen Fällen dürften die Hintergründe allerdings durchaus weniger tragisch gewesen sein – gelegentlich führten familiäre Umstände oder die einsetzende Fluktuation in Städte dazu, dass alte Siedlungen und insbesondere einzelne Hofstellen aufgegeben wurden und „wüst“ fielen.

Je nach Zeitstellung und Umständen der historischen Begebenheiten kann es aus heutiger Sicht mitunter Schwierigkeiten bereiten, die genauen Standorte ehemaliger Siedlungsorte zu ermitteln. Die Anzahl der bekannten und lokalisierbaren Ortswüstungen im Raum Celle ist überschaubar. Aufhorchen lässt daher ein Beitrag des Lehrers und ehemaligen Rektors der Celler Mittelschule, Friedrich Barenscheer, der am 19. April 1972 im Sachsenspiegel in der Celleschen Zeitung erschien. Barenscheer berichtete darin von den Nachforschungen zu der Wüstung Bagehorn im Lüßwald bei Unterlüß.

Bild: Beitrag im Sachsenspiegel. Quelle: Barenscheer, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1979.

Die Geschichte begann mit einer Anfrage des Alfonso Gall-Bagehorn an die Gemeinde Unterlüß im Oktober 1971. Der damals in Spanien wohnhafte Gall-Bagehorn interessierte sich für die Herkunft seiner Familie mütterlicherseits. In seinen Briefen an den Unterlüßer Bürgermeister und an Friedrich Barenscheer beschrieb er, dass er in den Dreißigerjahren eine Auskunft erhalten habe, wonach sich einst ein Hof Bagehorn im Gebiet von Unterlüß befunden haben soll.[1] 

Alfonso Gall-Bagehorn gab an, diese Information erhalten zu haben, als er Inhaber eines Exportgeschäftes in Hamburg gewesen sei und wie alle Selbstständigen den sogenannten „Ariernachweis“ zu erbringen hatte. Um seinen pflichtgemäßen Abstammungsnachweis entsprechend der nationalsozialistischen Vorgaben zu erbringen, setzte sich Gall-Bagehorn demzufolge intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander.

Wie er in seinen Schreiben angab, nutzte Gall-Bagehorn die damals populäre Tageszeitung „Hamburger Fremdenblatt“ für eine Anfrage nach der Herkunft seines Familiennamens. Die hierauf erteilte Auskunft, dass der Name auf einen ehemaligen Bauernhof im Bereich von Unterlüß zurückzuführen sei, veranlasste ihn, sich hierzu gegen Anfang der Siebzigerjahre vor Ort weitergehende Erkundigungen anzustellen. Insbesondere interessierte er sich dafür, ob evtl. ein alter Flurname auf den Standort des ehemaligen Gehöfts hindeuten würde.

Friedrich Barenscheer hatte sich intensiv mit der regionalen Flurnamenforschung auseinandergesetzt.[2]Er setzte den Familiennamen Bagehorn mit der tradierten Flurbezeichnung Bogenhorn östlich von Unterlüß in Verbindung.[3] Eine Ortsbegehung unter Unterstützung des Oberforstmeisters Bretschneider erbrachte für Barenscheer weitere Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wüstung Bagehorn südwestlich der heutigen Siedlung Lünsholz befunden haben müsste. Dort konnten die Ausläufer des trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, eines Vorläufers der Aschau, entdeckt werden. In diesem Bereich verortete Barenscheer schlussendlich die Wüstung Bagehorn. Obwohl er sich durchaus verwundert darüber zeigte, dass bis dahin „heimische Forscher (...) die Wüstung nicht entdeckt“ hätten, konstatierte er, dass „an dem Vorkommen des Hofes Bagehorn kein Zweifel“ bestehen könne. [4]

Bild: bis heute ist das Urstromtal des Drellebachs im Gelände sichtbar. Quelle: H. Altmann, 2023.

In der 1996 erschienenen Gemeindechronik von Unterlüß kam Jürgen Gedicke allerdings zu dem Schluss, dass sich keine hinlänglichen Beweise für eine bäuerliche Siedlung Bagehorn fänden ließen.[5] Er schlussfolgerte stattdessen, dass sich in dem Bereich der vermeintlichen Wüstung – rund vier Kilometer westlich entfernt vom herzoglichen Jagdschloss in Weyhausen – einst eine Hetzschanze und eine Unterkunft für die Treiber aus den umliegenden Dörfern befunden haben könnte. Die Aufgabe der Treiber war es, das Wild in die unmittelbare Nähe der Jagdgesellschaften zu treiben. Gedickes Einschätzung ging vermutlich nicht zuletzt auf die Darstellungen von Paul Paschke zurück, der den Flurnamen Haßloh ebenfalls mit eine solchen jagdlichen Einrichtung in Zusammenhang gesetzt hatte. [6]

Bild: Rubrik "Briefkasten". Quelle: Hamburger Fremdenblatt, Abendausgabe, Jg. 109, Ausgabe 262, 22.09.1937, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky.

Die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse belegen, dass die Angaben des Alfonso Gall-Bagehorn als plausibel einzustufen sind. Gall-Bagehorn – mit vollem Namen: Sebastian José Alfonso Gall von Bagehorn – wurde Mitte der Dreißigerjahre Einzelprokura in einem Hamburger Kaufmannsbetrieb eingeräumt.[7] Gall-Bagehorn hatte angegeben die Information zu dem aufgegeben Gehöft bei Unterlüß über den „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts erhalten zu haben. Der „Briefkasten“ war eine fest etablierte Rubrik im Hamburger Fremdenblatt. Abonnenten der Zeitung konnten darin alle möglichen Fragen platzieren, um in den Folgeausgaben hierzu Antworten von der Redaktion zu erhalten.

Es ist festzustellen, dass sich die Anzahl der familiengeschichtlichen Anfragen im „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts nach Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze[8] ab 1935 merklich steigerten. Allerdings konnte sich Gall-Bagehorn nicht an das genaue Erscheinungsdatum der Auskunft zu seiner Anfrage erinnern – auch Friedrich Barenscheer gelang es nicht, den Verfasser der Information zur Wüstung Bagehorn des „Briefkastens“ ausfindig zu machen. Die Recherchemöglichkeiten haben sich seit 1972 jedoch erheblich verbessert. Inzwischen liegt das Hamburger Fremdenblatt vollständig digitalisiert vor. Trotz der früher verwendeten Frakturschrift ist mit wenigen Eingaben eine Volltextsuche in allen verfügbaren Ausgaben der Zeitung möglich.

Am 22. September 1937 erschien tatsächlich ein Hinweis auf den Ortsnamen Bagehorn im Briefkasten des Hamburger Fremdenblatts. Die damals gestellte Anfrage richtete sich jedoch auf die Bedeutung der Familienname Penzhorn und Misselhorn. Unter Verweis darauf, dass der Name Misselhorn an der Landstraße zwischen Hermannsburg und Unterlüß vertreten ist, wurde ebenfalls der Name Bagehorn als ein Beispiel für einen Familiennamen in der Lüneburger Heide genannt, der aus einem Ortsnamen hervorgegangen sei.[9] 

Sonstige Einträge zu Bagehorn sind in den Ausgaben des Hamburger Fremdenblatts in den Dreißigerjahren nicht erschienen. Unter Umständen kam es zu einer Ortsverwechselung, auf der dann auch die anschließenden Nachforschungen Barenscheers aufbauten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der mutmaßliche Hinweis auf die Ortswüstung „Bagehorn“ und auch die etymologische Ableitung durch Barenscheer von „Bagehorn“ auf „Bogenhorn“ standhalten, ergibt sich weiterer Klärungsbedarf.

Bild: Lüßkuhle unmittelbar nördlich von Lünsholz. Quelle: H. Altmann, 2023.

Insbesondere ist fraglich, ob die Lokalisierung der vermeintlichen Ortswüstung zutreffen kann. Hierfür wäre zunächst zu klären, wo genau sich die Flur „Bogenhorn“ einst befand. Barenscheer stellte fest, dass die Flur auf der Kreiskarte als Beilage zum Speicher[10] „irrtümlich nördlich der Straße“ zwischen Weyhausen und Unterlüß angegeben worden sei.[11] 

Dabei verließ er sich offenbar auf die Eintragung des „Bogenhorn“ im Jagen 80 in der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899. Der Abgleich von georeferenzierten historischen Karten und die Auswertung moderner Laserscanaufnahmen zeigt jedoch, dass es nicht so einfach ist, den genauen Standort der Flur „Bogenhorn“ zu ermitteln.

Bild: Lüßberg - ehemals "Fahlen Berg". Quelle: H. Altmann, 2023.

Laut der Kurhannoverschen Landesaufnahme, aufgenommen durch Offiziere des hannoverschen Ingenieurskorps im Jahr 1777, liegt die Flur Bogenhorn eindeutig nördlich der später errichteten Straße zwischen Weyhausen und Unterlüß.[12] Die bezeichnete Stelle liegt hiernach nordöstlich der ebenfalls eingetragenen Lüßkuhle, unmittelbar am Fahlen Berg.

Dieser wird in späteren Kartenwerken zwar nicht mehr als solcher aufgeführt – an seiner Stelle wurde fortan jedoch der Lüßberg verzeichnet. Die Lüßkuhle ist bis heute im Gelände als natürliche Senke auffindbar. Bemerkenswert ist, dass in der Karte von 1777 südlich der Lüßkuhle die Flurnamen Kempelhorn und Auf der Warte verzeichnet sind.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Kurhannoversche Landesaufnahme 1777, Blätter Hermannsburg und Holdenstedt, Google Earth.

Im Atlas von Papen aus dem Jahre 1831 tauchen die Flurbezeichnungen nicht auf. Erst in einer Spezialkarte des ehemaligen Forstreviers Dalle aus dem Jahr 1848 treten die Flurbezeichnungen Bogenhorn und Kempelhorn wieder in Erscheinung. Zu bemerken ist, dass die Flurbezeichnung Kempelhorn laut dieser Karte deutlich weiter nördlich eingetragen worden ist und die Bezeichnung des Bogenhorn weiter südlich. Beide Flurnamen befinden sich laut der Karte von 1848 ungefähr auf gleicher Höhe. 

Die seltsame Wanderung der Flurnamen scheint sich in Hinblick auf spätere Kartenwerke fortzusetzen. In der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899 ist die Flur Kempelhorn bereits unmittelbar nördlich von Lünsholz und etwas südlich der Lüßkuhle zu finden. Die Flurbezeichnung Bogenhorn war noch weiter nach Süden verlegt worden und befand sich nun im Bereich jenes trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, wo Barenscheer schließlich die vermeintliche Wüstung Bagehorn platzierte.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Karte des Deutschen Reiches 1:100.000, Google Earth.

Die Genese der Flurnamen ist beachtenswert. Das Kempelhorn „wanderte“ im Laufe von rund 120 Jahren etwa zwei Kilometer in nördliche Richtung – das Bogenhorn schaffe es dagegen sogar rund zweieinhalb Kilometer in den Süden. Ursächlich mag gewesen sein, dass in der Gegend nur wenige markante Fixpunkte existierten, an denen sich die Flurbezeichnungen hätten richten können. 

Diese Entwicklung zeigt jedoch, dass die Flurnamen nur begrenzt Aufschluss über den Standort der mutmaßlichen Wüstung geben. Die Geländebeobachtungen Barenscheers können somit keine Lokalisierung der vermeintlichen Wüstung liefern, da diese – sofern sie tatsächlich mit dem Flurnamen Bogenhorn zusammenhängt – sehr wahrscheinlich weiter nördlich lag.

Bild: Abfall des Geländes im Bereich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Die vermeintlich als „Bogenhorn“ identifizierte Stelle wird in der Kurhannoverschen Landesaufnahme als „Auf der Warte“ bezeichnet. In Zusammenhang mit der markanten Geländeformation könnte es sich hierbei möglicherweise dennoch um eine interessante historische Stelle handeln. 

Als „Warten“ bezeichnete Bereiche waren in früherer Zeit nicht selten die Standorte vorgeschobener (militärischer) Beobachtungsposten. Tatsächlich liegt in unmittelbarer Nähe zu dieser Örtlichkeit eine markante rechteckige Schanze, deren historische Bestimmung bislang noch nicht geklärt werden konnte. Die Flur „Auf der Warte“ befindet sich auf einer beachtlichen Geländeanhöhe, was die Annahme eines Beobachtungspunktes stützen könnte.

Bild: Relikte einer rechteckigen Schanze südlich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Ob der Familienname Bagehorn auf einen wüst gefallenen Bauernhof im Lüßwald zurückgeht, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Ausgeschlossen wäre die Existenz einer Wüstung im Lüßwald wohl zwar nicht – Urkundenbücher, Zins-, Lehn- und Viehschatzregister sowie auch sonstige historische Quellen geben diesbezüglich jedoch keinerlei Hinweise.[13] Mythen, Sagen und Legenden zu einem untergegangenen Gehöft in dieser Gegend sind bislang nicht bekannt geworden. 

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass in Bezug auf die mutmaßliche Wüstung Bagehorn lediglich eine Verwechselung vorliegen sollte, so hält der Lüßwald sicherlich noch viele spannende Entdeckungen bereit.

Hendrik Altmann

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[1] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel Jg. 31, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[2] Alpers/Barenscher, Celler Flurnamenbuch, 1952.
[3] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[4] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[5] Gedicke, Chronik der Gemeinde Unterlüß, Bd. 1, S. 189.
[6] Paschke, Der Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 05.03.1932.
[7] Hamburger Fremdenblatt v. 16.05.1935, Eintragungen in das Handelsregister v. 14.05.1935.
[8] RGBl. Teil I, Nr. 100 v. 16.09.1935.
[9] Hamburger Fremdenblatt, Briefkasten, Abendausgabe v. 22.09.1937.
[10] Helmke/Hohle, Der Speicher, 1930.
[11] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[12] Kurhannoversche Landesaufnahme des 18. Jahrhunderts, Blatt Nr. 91, 92 Hermannsburg/Holdenstedt, 1777.
[13] Dolle/Flöer, Die Ortsnamen des Landkreises Celle, 2023.


Dienstag, 3. Oktober 2023

Vortrag 12.10.2023: Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen

 

Vortrag: Der Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen (Hendrik Altmann)

Datum:                      12.10.2023

Uhrzeit:                     18:00 Uhr bis 19:30 Uhr

Veranstaltungsort:     Bomann-Museum, Schlossplatz 7, 29221 Celle

Kosten:                      Eintritt frei


Hintergrund

Es erinnert heute nicht mehr allzu viel daran, dass sich bei Wesendorf bis April 1945 der größte militärische Standort im Landkreis Gifhorn befand. Bei genauem Hinsehen lassen sich bis heute jedoch vereinzelte Spuren feststellen. Ins Auge sticht insbesondere ein gleichmäßig bewachsener Geländestreifen im zentralen Bereich des ehemaligen Rollfeldes an dessen Enden auffällige Bodenunebenheiten angrenzen.

Es handelt sich um die Überreste von Baumaßnahmen, die bis zum Kriegsende unter Hochdruck betrieben wurden und die dazu dienten, den Fliegerhorst um eine betonierte Start- und Landebahn zu erweitern. Hintergrund: der bislang unbefestigte Flugplatz sollte für den Einsatz moderner Düsenflugzeuge – sogenannter „Strahlflugzeuge“ einsatzfähig gemacht werden. Von derartigen Neuentwicklungen und vermeintlichen Wunderwaffen erhoffte man sich eine entscheidende Wendung im längst verlorenen Krieg.

Schuften mussten bei Wesendorf vorwiegend Zwangsarbeiter. Zum Einsatz kamen hier hunderte Häftlinge der Zuchthäuser Wolfenbüttel und Celle. Zum überwiegenden Teil waren es politische Häftlinge, d.h. keine Schwerverbrecher, die im sogenannten "Außenkommando Krümme" – einem bewachten Barackenlager im Süden des Flugplatzes – unter unmenschlichen Umständen untergebracht waren. Verurteilt für Verbrechen, wie beispielsweise das Hören ausländischer Radiosender, das Lesen "feindlicher" Propaganda oder geringfügige Diebstahlsdelikte, waren die Häftlinge schwerster körperlicher Arbeit, unzureichender Versorgung und der rohen Behandlung durch die Bewacher ausgesetzt. Etliche überlebten diese Zustände nicht – junge Männer starben mitunter an Körperschwäche und Herzversagen. Systematisch aufgearbeitet wurden diese Zusammenhänge bislang nicht.

Für Buch und Vortrag „Der Fliegerhorst Wesendorf – zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen“ wertete Hendrik Altmann archivalische Bestände und weiteres Quellenmaterial erstmals umfassend aus. Die Recherchen lieferten insbesondere Erkenntnisse darüber, wie die Zusammenarbeit zwischen den Zuchthausverwaltungen in Celle und Wolfenbüttel in Bezug auf die Bereitstellung von Arbeitskräften vonstattenging. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen Rüstungsprojekten und Zwangsarbeit werden am Beispiel des Fliegerhorstes Wesendorf belegt.







Donnerstag, 8. Juni 2023

Was geschah mit dem Lager Mondhagen?




Am 8. April 1945 ereignete sich der schwerste Luftangriff auf Celle während des Zweiten Weltkriegs. Die Zusammenhänge waren bereits mehrfach Gegenstand von Untersuchungen – dennoch tauchen immer wieder ergänzende Informationen auf. Jüngste Archivrecherchen liefern Hinweise zum ehemaligen „Reichsbahnlager Mondhagen“, das im Zuge des Luftangriffs an jenem Apriltag kurz vor Kriegsende vollständig zerstört worden ist.

Heute schlängeln sich schmale ausgetretene Pfade durch das dichte Unterholz. Gelegentlich rauschen Züge auf der angrenzenden Bahnstrecke Hannover/Celle vorbei. Auf den ersten Blick wirkt die Grünfläche mit ihrem dichten Baumbestand nicht besonders auffällig. Der bezeichnete Bereich befindet sich in Westercelle dort, wo die Straße „Mondhagen“ heute unmittelbar an den Bahngleisen endet.

Wie historische Karten belegen, verlief die Straße Mondhagen früher anders als heute. Sie querte die Bahnstrecke in Höhe des Gleisabzweigs nach Gifhorn/Schwarmstedt und führte weiter in Richtung Wietzenbruch. Die Gleiskreuzung war das Bindeglied, das die einstigen Streckenabschnitte der Unter- und Oberallertalbahn in Celle miteinander verband. Zwischen den Gleisen der Fernstrecke in Richtung Hannover und dem Streckenabzweig in Richtung Gifhorn befand sich bis zum 8. April 1945 das sogenannte „Reichsbahnlager Mondhagen“. Die amtliche Bezeichnung dieses Barackenlagers lautete „Zivilarbeiterlager der Reichsbahn, Bahnmeisterei 1, Mondhagen“.

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: G.S.G.S. Map 4414, Sheet 3326, Third Ed., published by War Office, 1944, public domain. 

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: Google Earth. 

Das Lager bestand aus mindestens vier Holzbaracken sowie kleineren Nebengebäuden. Aus Nachkriegsunterlagen zu Nachforschungen über die Gefängnisse und Lager im Reichsgebiet geht hervor, dass das Reichsbahnlager Mondhagen nur schwach bewacht worden ist. Lediglich zwei unbewaffnete Zivilisten waren als Lagerwarte eingesetzt. Immerhin rund 120 Personen waren in dem Lager damals untergebracht – davon ca. zwanzig Polen und im Übrigen Russen. Von diesen waren etwa zwanzig mitsamt ihrer Familie in dem Barackenlager untergekommen.

Die Insassen des Lagers waren offenbar – je nach ihrer Qualifikation – zu verschiedenen Tätigkeiten bei der Reichsbahn in Celle eingesetzt. Die Arbeitskräfte wurden zum Teil auch im Fahrdienst beschäftigt. Die Arbeitszeit betrug je nach Einsatz ca. acht bis zehn Stunden. Für ihre Arbeit erhielten die Lagerinsassen eine Vergütung – inwiefern diese den damals üblichen Standards entsprach, lässt sich den vorliegenden Quellen nicht entnehmen. Die Bewohner des Lagers Mondhagen durften sich abends und Sonntags außerhalb des Lagers frei bewegen. Sie besaßen zwar einen entsprechenden Ausweis, trugen jedoch keine Erkennungsnummern.

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: Ausschnitt Luftbild Frühjahr 1945. 

In den frühen Abendstunden des 8. April 1945 näherten sich mehrere Bomberstaffeln der 9. US Air Force (USAAF) der Stadt Celle. Es handelte sich um schnelle Flugzeuge des Typs Martin B-26 „Marauder“ (dt.: Plünderer). Nach einem vorangegangenen Angriff auf die Erdölwerke bei Nienhagen, steuerten nachfolgende Bomberstaffeln das Celler Stadtgebiet an. Dort ahnte man offenbar noch nichts von der herannahenden Gefahr – obwohl über den brennenden Erdölwerken bei Nienhagen bereits tiefschwarze Rauchwolken standen. 

Zwischen 18:10 und 19:15 Uhr wurde der Celler Güterbahnhofs durch aufeinanderfolgende Angriffswellen mehrerer Bomb Groups der USAAF getroffen. Laut dem offiziellen Bericht der Ordnungspolizei erfolgte dieser Luftangriff durch mindestens 80 Flugzeuge, die ca. 360 Minen- und Sprengbomben abwarfen. Zu folgenschweren Ereignissen kam es durch die Bombardierung eines KZ-Transportzuges, der sich zu diesem Zeitpunkt im Bereich des Celler Güterbahnhofs aufhielt. Zu diesen Zusammenhängen wurde bereits mehrfach berichtet. Kürzlich erschienen drei Beiträge in der Celleschen Zeitung in denen Zeitzeugen ihre persönlichen Erlebnisse schilderten (Teil I, Teil II, Teil III). 

Bild: Three Martin B-26 Marauders Aim Fresh Blows At The Nienhagen, Germany Oil Refinery Obscured By Thick Smoke From Previous Hits By 9Th Bombardment Division. Quelle: www.Fol3.com, NARA Reference: 342-FH-3A22118-57133AC, published with permission of Fold3.com. 

Das Augenmerk soll an dieser Stelle auf die Geschehnisse in Hinblick auf das Reichsbahnlager Mondhagen gerichtet werden. Dieses befand sich südlich des heutigen Wilhelm-Heinichen-Rings und damit eigentlich außerhalb des Güterbahnhofs. Alliierte Luftbilder, die am 8. April 1945 noch vor dem Luftangriff aufgenommen worden sind, zeigen das Reichsbahnlager Mondhagen mit zwei kleineren, rechtwinkligen Luftschutzgräben in dessen nördlichem Bereich. 

Diese Gräben befanden sich ungefähr dort, wo die Gleise der Oberallertalbahn aus Richtung Gifhorn auf die Fernbahnstrecke einmündeten. Sicherlich hätten derartige Luftschutzgräben nur einen rudimentären Schutz gegen umherfliegende Splitter geboten – keinesfalls jedoch gegen direkte Bombentreffer. Genau hierzu kam es an jenem Apriltag jedoch.

Bild: Auszug aus dem Einsatzbericht der 391st Bomb Group. Quelle: Mission Summary 08.04.1945, Field Order 839 & 840, Headquarters of the 9th Bombardement Division. 

B-26 Bomber der 391st Bomb Group, die in der Box I – also in der ersten Angriffsstaffel dieser Formation flogen – konnten den „DMPI“, d.h. den „Desired Mean Point of Impact“ (= planmäßiger Angriffsschwerpunkt) aufgrund der Rauchentwicklung am Boden nicht erkennen. Die Bomberstrategie der US-Luftstreitkräfte sah in einem solchen Fall nicht vor, dass die angreifenden Maschinen neue Anflüge für die Bombardierung des angestrebten Ziels unternahmen – es galt, den Aufenthalt der eigenen Flugzeuge im Zielgebiet auf eine möglichst kurze Zeitspanne zu begrenzen. 

Den Crews blieben daher nur wenige Augenblicke, um zu entscheiden, wie mit der Bombenlast verfahren werden sollte. Den Aufklärungsberichten, d.h. den sogenannten „Interpretation Reports“, die bereits ab Oktober 1944 zusammengestellt worden sind, ist zu entnehmen, dass der Angriffsbereich den gesamten Korridor zwischen dem Celler Personenbahnhof und dem südlichen Ende des Güterbahnhofs umfasste. Dies ermöglichte es den angreifenden Bomb Groups ihre Bombenlast lokal versetzt abzuwerfen, sofern bestimmte Bereiche aufgrund der Rauchentwicklung nicht auf Sicht bombardiert werden konnten.

Am 8. April 1945 entschieden sich die angreifenden Bomber der 391st Bomb Group ihre Bomben auf die Gleiskreuzung abzuwerfen, die sich rund 2.100 Fuß südlich des eigentlichen Zielpunktes am Güterbahnhof befand. Der Einsatzbericht dokumentiert, dass die abgeworfenen Bomben in einem dichten Muster aufschlugen und einen Bereich mit einem Durchmesser von rund 1.000 Fuß bedeckten. 

Bild: Bombardierung des Gleiskreuzes und des Lagers Mondhagen am 08.04.1945. Quelle: Luftbild 08.04.1945, Sammlung Altmann. 

Vier Gleisstränge wurden als getroffen bestätigt – darüber hinaus sei eine Straßenüberquerung sowie sechs Wohngebäude getroffen worden, heißt es im Einsatzbericht. Es handelte sich hierbei zweifelsfrei um das Reichbahnlager Mondhagen. Luftbilder, die während der Bombardierung aufgenommen worden sind, zeigen die explodierenden Sprengbomben im Bereich der Gleiskreuzung nördlich und südlich der Straße Mondhagen. Abgeworfen wurden an jenem Tag 2.000 Pfund schwere Bomben des Typs „General Purpose“, d.h. Mehrzweckbomben, die zum Angriff auf unterschiedliche Bodenziele verwendet werden konnten.

Das Vorgehen der Einheit der 391st Bomb Group wirft mit Blick auf die Begründung, der planmäßige Angriffsschwerpunkt sei aufgrund der Rauchentwicklung nicht erkennbar gewesen, durchaus Fragen auf. Zwar ist auf dem Luftbild des Angriffs eindeutig eine massive Rauchwolke zwischen der Gegend des Güterbahnhofs und Westercelle zu erkennen. Weite Bereiche des südlichen Güterbahnhofs sind jedoch klar und ohne Raucheinwirkung zu sehen. In diesem Areal befanden sich Zielpunkte, die bereits im Aufklärungsbericht genannt worden sind. 

Diese Ziele hätten die Bombercrews der 391st Bomb Group am 8. April 1945 eigentlich auf Sicht bombardieren können – sie taten es jedoch nicht. Ein möglicher Grund mag darin liegen, dass der koordinierte Abwurf auf der Gleiskreuzung der Allertalbahn lohnenswerter erschien. Dort konnten gleichzeitig Schienen- und Straßeninfrastruktur getroffen werden und darüber hinaus auch noch Gebäude zerstört werden.

Bild: Ansicht des Gleiskreuzes heute - mit Blick in Richtung des ehemaligen Lagers Mondhagen. Quelle: H. Altmann, 2023. 

Alliierte Luftbilder, die am 10. April 1945 aufgenommen worden sind, belegen das Ausmaß der Zerstörungen – sowohl im Bereich des Celler Güterbahnhofs als auch im Bereich der besagten Gleiskreuzung der Allertalbahn, in der sich das Barackenlager Mondhagen der Reichsbahn befand. Die Einschlagskrater liegen so dicht beieinander, dass sie sich mit bloßem Auge kaum als mehrfache Treffer unterscheiden lassen.

Von den Gebäuden ist auf diesen Luftbildern nichts mehr zu sehen – der zentrale Bereich des kleinen Reichsbahnlagers erhielt mehrere direkte Treffer und wurde vollkommen verwüstet. Auch der angrenzende Bereich südlich der Straße Mondhagen ist mit Bombenkratern übersäht. Die Gleisverbindung in Richtung Gifhorn wurde mehrfach getroffen. Die Gleise der Fernstrecke in Richtung Hannover waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Streckenverlauf in Richtung Schwarmstedt wurde durch den Luftangriff scheinbar nicht beschädigt – die Masse der abgeworfenen Bomben traf offenbar den östlichen Bereich der Gleiskreuzung.

Bild: Ein Relikt des ehemaligen Lagers Mondhagen? Quelle: H. Altmann, 2023. 

Es ist bislang nicht geklärt, ob sich zum Zeitpunkt der Bombardierung noch Menschen im Reichsbahnlager Mondhagen befanden. Eine Überlebenschance bei einem derart konzentrierten Trefferbild hätte im unmittelbaren Bereich sicherlich nicht bestanden. Weder die Luftschutzgräben, noch die Holzbaracken hätten auch nur annähernd Schutz gegen die Detonationen, die umherfliegenden Splitter sowie die Druckwelle geboten. 

Aus den seinerzeit erfassten Exhumierungs- und Umbettungsunterlagen ergeben sich allerdings keine Rückschlüsse auf Leichenfunde im Bereich des ehemaligen Reichsbahnlagers Mondhagen. Es wäre denkbar, dass die Insassen das Lager in Folge des ausgegebenen Luftalarms verließen und anderswo Schutz suchten. Ebenso wäre es möglich, dass das Lager durch den vorausgegangenen Luftangriff am 22. Februar 1945 bereits so schwer beschädigt worden war, dass die Insassen schon ab diesem Zeitpunkt anderswo untergekommen waren.

Bild: Ein Relikt des ehemaligen Lagers Mondhagen? Quelle: H. Altmann, 2023. 

Heute ist von dem einstigen Reichsbahnlager Mondhagen vor Ort so gut wie nichts mehr zu erkennen. Der ehemalige Lagerbereich ist mit dichtem Unterholz bewachsen. Sichtbare Relikte der Baracken bzw. deren Fundamenten existieren so gut wie nicht mehr. Die Bombenkrater sind längst verfüllt worden. Auch moderne Auswertungsmethoden anhand von Laserscanaufnahmen liefern in diesem Bereich keine Erkenntnisse über auffällige Bodenstrukturen. 

Nur eine geradlinig verlaufende Reihe stämmiger Eichen zeigt den ehemaligen Verlauf der Straße Mondhagen noch an. Der einstige Standort des Lagers lässt sich somit noch ungefähr erahnen, da sich dieses früher unmittelbar nördlich der Straße im Bereich des Gleiskreuzes befand.

Bild: Reihe alter Eichen am ehemaligen Straßenverlauf des Mondhagen. Quelle: H. Altmann, 2023. 

Durch den Luftangriff am 8. April 1945 sollten militärtaktische Ziele getroffen werden. Die Erdölwerke bei Nienhagen und der Güterbahnhof in Celle passten in dieses Muster. Ebenso passt hierzu, dass angreifende Verbände der 394th Bomb Group, die eigentlich die Erdölwerke bei Nienhagen bombardieren sollten, diese aufgrund der massiven Rauchentwicklung jedoch nicht auf Sicht treffen konnten, stattdessen ihr Ausweichziel – nämlich den Bahnhofsbereich in Gifhorn – bombardierten. Die Angriffe der schnellen Mittelstreckenbomber des Typs B-26 „Marauder“ sollten an jenem Tag Nachschubrouten treffen und auf deutscher Seite Kräfte binden. 

In Celle löste der Luftangriff vom 8. April 1945 blankes Chaos aus. Bis heute ist den Überlieferungen von Zeitzeugen zu entnehmen, wie nachhaltig sich die Ereignisse der Bombardierung in ihrem Gedächtnis einprägten. Militärstrategisch konnte die US Air Force an jenem Tag zweifelsohne einen Erfolg verbuchen. Für diesen bezahlten am Boden etliche einen hohen Preis – insbesondere die Insassen jenes KZ-Transportzuges, der durch die Bomben am 8. April 1945 getroffen worden ist.

Obwohl die damaligen Ereignisse bereits mehrfach anhand historischer Quellen betrachtet und aufgearbeitet worden sind, treten immer wieder neue Erkenntnisse ans Licht. Die Ereignisse um das ehemalige Reichsbahnlager Mondhagen bilden hierbei nur ein kleines Puzzlestück im Gesamtbild des damaligen Geschehens.

H. Altmann

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Weitere Informationen: 

8. April 1945 - Bomber der US Air Force über Celle 
Karte zeigt Zerstörungen: 8. April 1945
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Stand: 07.06.2023
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Quellen:

NLA Hannover, ZGS 10 Nr. 1571.
Bertram, April 1945 – Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der KZ-Häftlinge aus Drütte.
Einsatzbericht der 9. USAAF v. 08.04.1945.
Luftbilder Celle v. 08.04.1945, Sammlung Altmann.
Chef der Ordnungspolizei, Hauptamt Ordnungspolizei, Bericht vom 08.04.1945, Bundesarchiv, R19, 341.
National Archives Washington, RG 243, Damage Assessment Reports 1942-1945, Entry 27 1-10, File Title III a (3061), Box 166.