f Heimatforschung im Landkreis Celle

Dienstag, 7. März 2023

Zwischen Uelzen und Celle: die Feldbahnübung von 1892

Bild: Brücke über die Aller bei Celle. Quelle: DeGolyer Library, Southern Methodist University

Die ausgedehnten Heideflächen nördlich von Celle waren in der Geschichte mehrfach Schauplatz militärischer Manöver. Eine besonders spektakuläre Übung wurde unter großem Aufwand im Jahre 1892 abgehalten. In deren Rahmen wurde innerhalb weniger Tage eine eingleisige Feldbahnstrecke rund 70 Kilometer durch die Heide – zwischen Uelzen und Celle – verlegt und in Betrieb genommen.

Am 14. Juli 1892 setzte in Uelzen „ein sehr reges militärisches Leben“ ein.[1] An diesem Tag trafen die ersten Mannschaften der Berliner Eisenbahnbrigade aus Schöneberg ein. Fortwährend erreichten Zugtransporte mit Baumaterial und weitere Truppenkontingente den Uelzener Bahnhof. Ziel des Aufmarsches war eine praktische Übung der Eisenbahnbrigade, in deren Vorbereitung eine schmalspurige Feldbahnstrecke zwischen Uelzen und Celle errichtet und in Betrieb genommen werden sollte.

Ein vergleichbares Manöver hatte bis dato noch nie stattgefunden, denn die Militäreisenbahn war für damalige Verhältnisse ein relativ moderner Truppenbestandteil. Der Deutsch-Französischen-Krieg (1870-1871) hatte das Bewusstsein für die militärische Relevanz von Mobilität geschärft. Um diese für Truppen und Ausrüstung zu gewährleisten, wurden bereits ab 1866 gesonderte Eisenbahnabteilungen im Heer geschaffen. 

Die Eisenbahnregimenter sollten im Ernstfall insbesondere in der Lage sein, behelfsmäßige Feldbahnen in kurzer Zeit bereitzustellen, um im Kriegsfall die erforderliche Beweglichkeit größerer Kontingente zu gewährleisten. Mit der Einrichtung eines eigenen Standortes in Schöneberg bei Berlin verfügte die Truppe zwar über neue Kasernen – an Platz für praktische Übungen, nämlich für die Anlage von Feldbahngleisen über mehrere Kilometer – mangelte es vor Ort jedoch. 

Bild: Bahnhof Uelzen. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Vor diesem Hintergrund fiel die Wahl für ein entsprechendes Manöver auf die dünn besiedelte Heidegegend zwischen Uelzen und Celle. Die hiesige Landschaft bot sich für ein derartiges Unterfangen ideal an. Einerseits gab es wenig landwirtschaftlich genutzte Flächen, die im Rahmen der Übungen beschädigt werden konnten – andererseits war das Gelände recht abwechslungsreich. Es mussten mehrere Flüsse, sandige Steigungen und größere Moore überwunden werden. Gleichzeitig mussten die Eisenbahntruppen versorgt, transportiert und untergebracht werden. Die sogenannte Feldbahnübung des Jahres 1892 erfuhr daher auch überregional größere Beachtung.

Morgen, Dienstag den 12. d. Monats, rückt das königliche bayrische Eisenbahnbataillon nach der Lüneburger Haide ab, um dortselbst zusammen mit der königlichen preußischen Eisenbahnbrigade eine große vierwöchige Feldbahnübung durchzuführen.“, war in der Münchener Allgemeinen Zeitung damals zu lesen.[2] Letzte Kompanien des Bataillons erreichten Uelzen am 17. Juli 1892. Sie trafen in Kriegsstärke, d.h. mit je 182 Mann und 10 Offizieren ein.[3] Am 22. Juli 1892 waren bereits rund 1.000 Soldaten in Uelzen eingetroffen und wurden zunächst bei der örtlichen Bevölkerung einquartiert.

Bild: Depotkompanie nach Ankunft in Uelzen. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Das Baumaterial musste vollständig antransportiert werden. Schienen, Bahnschwellen sowie einige hundert Transportwagen und 50 Lokomotiven gelangten über Eisenbahntransporte auf der Normalspur zum Bahnhof Uelzen.[4] Bereits dort waren weitreichende infrastrukturelle Herausforderungen zu bewerkstelligen – Feldbäckereien und Feldschmieden wurden erreichtet, Platz für Neben- und Abstellgleise geschaffen, ein Wasserbrunnen zur Versorgung gebohrt und zahlreiche Nebengebäude errichtet. Unmittelbar nach Beginn dieser Arbeiten wurde mit dem Bau der Feldbahnstrecke begonnen.

Bild: Einbautrupp der 4. Reservebaukompanie. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

In nur neun Tagen konnte die rund 70 Kilometer lange Strecke fertiggestellt werden.[5] Die Baumaßnahmen erfolgten versetzt – die Arbeiten für den Unterbau erhielten einen Vorsprung von zwei Tagen, sodass anschließend der Oberbau erfolgen konnte. Am 11. Tag nach Beginn der Bauarbeiten konnte auf der fertigen Strecke der planmäßige Betrieb aufgenommen werden.[6]

Der Streckenverlauf führte von Uelzen zunächst nach Hansen und überquerte hier die Gerdau. Von dort aus lief die Strecke in südwestliche Richtung vorbei an Unterlüß und erreichte etwa bei Gerdehaus den schmalen Bachlauf der Sothrieth. Dieser und die vorgelagerten Feuchtwiesen wurden mit einer langgezogenen Brückenkonstruktion überquert. 

Bild: Übergang über die Sothrieth. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Im weiteren Verlauf erreichte die Feldbahnstrecke Hermannsburg – hier überwand sie die Lutter (auch bezeichnet als Weesener Bach) und führte dann weiter nach Süden. Später stieß die Strecke auf die alte Heerstraße in Richtung Celle und folgte deren Verlauf über die Anhöhe des Citronenberges westlich von Rebberlah. 

Bild: Brücke über die Lutter bei Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bild: Küche in Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Auf freier Strecke waren in bestimmten Abständen kleinere Bahnstationen und Holzschuppen errichtet worden. So beispielsweise auch bei Streckenkilometer 50 südlich von Rebberlah. Von dort aus verlief die Feldbahn weiter in südwestliche Richtung durch den Arloh bis fast nach Scheuen. Hier befand sich ebenfalls eine kleine Bahnstation bei Kilometer 55.

Bild: Ankunft auf Kilometer 55. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Südlich von Scheuen führte die Feldbahnstrecke an der alten Ziegelei vorbei und dann kreuzte die neue Chaussee nach Hamburg unmittelbar östlich von Groß Hehlen. Bei Klein Hehlen wurde schließlich der Streckenkilometer 60 erreicht. Südlich von Klein Hehlen erreichte die Feldbahn schließlich ihr größtes natürliches Hindernis – die Aller. 

Hier wurde eine Brückenkonstruktion aus Stahl über den Fluss errichtet – wohlgemerkt: Nachts. Die Allgemeine Militärzeitung hielt hierzu später fest: „Ein interessantes Schauspiel bot das Legen einer Eisenbahnbrücke Nachts über den Allerfluß im Neustädter Holze bei Celle. Beim Scheine feldmäßiger Beleuchtung hantierten die Soldaten in ihren Arbeitsanzügen ameisenartig, im Hintergrunde ertönten die taktmäßigen Hammerschläge der Feldschmiede, welche das weißglühende Metall verarbeitete.[7] 

Bild: Brücke über die Aller. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Im Neustädter Holz nahm die Feldbahnstrecke eine scharfe Linkskurve und erreichte die Celler Neustadt südlich der Fuhse. Dort wurde ein behelfsmäßiger Feldbahnhof eingerichtet.

Bild: (Feld-)Bahnhof Celle. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Insgesamt wies die Feldbahnstrecke auf ihren 64 Kilometern Länge rund 400 Meter Brücken auf.[8] Mit Verzweigungen und Nebengleisen waren rund 70 Kilometer Gleise verlegt worden. Ein größeres Moor musste auf einer Breite von ca. 1,5 Kilometern überwunden werden – hierfür wurden unter anderem Roste in den Boden eingelassen, um das Gewicht der Bahnstrecke besser zu verteilen. 

An den Baumaßnahmen waren insgesamt 9 Eisenbahnbaukompanien beteiligt – der spätere Betrieb wurde durch 5 dieser Kompanien durchgeführt.[9] Während der Baumaßnahmen kam es zu kleineren und größeren Unfällen. Bei Hermannsburg stießen zwei Transportwagen zusammen, wobei zwei Soldaten zwischen die Wagen gerieten und starke Quetschungen erlitten.[10]

Bild: Kilometer 45 während des Betriebes. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Nach Abschluss der Bauarbeiten begann die eigentliche Übungsphase des laufenden Bahnbetriebs. Um die Tauglichkeit der Feldbahn für den Kriegsfall unter Beweis zu stellen, sollte insbesondere die Frequenz der Zugtransporte und die Logistik erprobt werden. Täglich fuhren rund 14 Züge auf der Feldbahn zwischen Celle und Uelzen – es wurde dabei zwischen Geschwindigkeiten von 10 – 15 km/h variiert.[11] Auf der Strecke kam insbesondere ein neuer Sanitätsversuchszug zum Einsatz.

Bild: Sanitätsversuchszug in Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Aufgrund der gesteigerten Beachtung dieses Manövers – immerhin handelte es sich um den größten bis dahin je durchgeführten Feldbahnversuch – rechnete man mit einem Besuch des Deutschen Kaisers. Ein Salonwagen für die Befahrung der Feldbahnstrecke war bereits bereitgestellt worden.[12] Zu einem kaiserlichen Besuch kam es allerdings nicht – die Gründe sind bis heute unbekannt.

Bild: das Offizierskorps bei der Versammlung in Celle am 10. August 1892. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Stattdessen wurde die Feldbahn unter Anwesenheit hochrangiger Generäle in Augenschein genommen. So besichtigte der Generalmajor Max von Bock und Polach im August 1892 die Bahnstrecke. Bereits 1893 wurde von Bock und Polach zum Generalleutnant der 20. Division in Hannover ernannt. Ab 1897 war er General der Infanterie. Zeitgenössische Aufnahmen zeigen Max von Bock und Polach und das Offizierskorps bei einer Befahrung der Strecke. Es liegen Fotoaufnahmen vor, die von Bock und Polach bei der Abfahrt aus Celle und bei der Besichtigung der Station am Streckenkilometer 50 zeigen.

Bild: Besichtigung der Strecke durch Herrn General von Bock und Polach. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bild: Besichtigungsfahrt seiner Exzellenz des Chefs des Generalstabs - Kilometer 50. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bis Mitte August 1892 lief der planmäßige Übungsbetrieb auf der Feldbahn. Als dieser erfolgreich beendet war, rückten zunächst die bayrischen Eisenbahnkompanien wieder ab. Nachdem auch die Stäbe der Eisenbahnbrigade nach Berlin zurückgekehrt waren, wurde die einspurige Feldbahn komplett zurückgebaut. 

Bild: Abfahrt des letzten fahrplanmäßigen Zuges von Hermannsburg nach Uelzen am 13. August 1892. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Der Rückbau setzte von Hermannsburg aus in beide Richtungen gleichzeitig ein.[13] Hölzer, Bretter, Bohlen und Balken wurden anschließend zusammen mit sonstigem Baumaterial öffentlich versteigert. Darüber hinaus wurden die im Zuge der Baumaßnahmen entstandenen Flurschäden taxiert.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn im Bereich des Citronenbergs bei Miele. Quelle: Altmann, 2023. 

Aus Sicht des Militärs wurde das Manöver im Nachhinein als positiv bewertet. „Das Ergebnis der Feldbahnübungen ist, der Schwierigkeit des Geländes entsprechend, durchaus zufriedenstellend gewesen. Offiziere und Mannschaften haben sich dem schwierigen und anstrengenden Dienste mit Ausdauer unterzogen. Aus dem Verlauf der Übung hat sich auch ergeben, dass sich die Bahnspur von 60 Zentimetern in hohem Maße für den Ausbau von Kleinbahnen, selbst in den schwierigsten Geländegestaltungen, eignen dürfte (...).“[14] Einige Anwohner und Bauern bedauerten es offenbar sogar, dass die Feldbahnlinie zwischen Celle und Uelzen wieder vollständig abgebaut worden war. Durch diese hatte man sich wohl einen Aufschwung in den kargen Heidelandschaften erhofft.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn bei Miele. Quelle: Altmann, 2023. 

Heute sind von der ehemaligen Feldbahnstrecke nur noch wenige Spuren im Gelände zu erkennen. Es ist ohnehin beachtlich, dass davon überhaupt noch etwas zu sehen ist, denn immerhin liegen die damaligen Ereignisse bereits über 130 Jahre zurück. Im Bereich der Anhöhe des Citronenbergs bei Miele (südöstl. Severloh) ist noch ein tiefer Geländeeinschnitt parallel zur alten Heerstraße zu erkennen.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn bei Weesen/Hermannsburg. Quelle: Altmann, 2023. 

Bild: hier befand sich einst die massive Brücke der Feldbahn über die Aller südlich von Klein Hehlen. Quelle: Altmann, 2023. 

Rund einen Kilometer nördlich des Citronenbergs sind ebenfalls noch Reste der einstigen Feldbahnstrecke erhalten geblieben – gleichmäßige Dämme zeugen von deren Verlauf. Nordöstlich von Weesen lässt sich dieser nur noch in geringfügigem Maße im Gelände erkennen. Moderne Laserscanaufnahmen ermöglichen es jedoch auch in diesen Bereichen, den Streckenverlauf aufzuspüren. Restlos verschwunden ist dagegen die einstige Brücke der Feldbahn über die Aller bei Celle. Wo sich damals zeitweise der Zielbahnhof der Feldbahnstrecke befand, erstreckt sich heute der Celler Stadtteil Neustadt/Heese.

H. Altmann

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Stand: 03/2023

[1] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[2] Münchner Allgemeine Zeitung, Jg. 94. Nr. 192, 12.07.1892.
[3] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[4] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[5] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 61, S. 485.
[6] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[7] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 61, S. 485.
[8] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[9] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[10] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[11] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[12] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[13] Deutsche Verkehrsblätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahnzeitung, Jg. 1892, Nr. 35, 01.09.1892.
[14] Deutsche Verkehrsblätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahnzeitung, Jg. 1892, Nr. 35, 01.09.1892.


Donnerstag, 16. Februar 2023

Bergen. Endstation Bahnhofsrampe.


Für tausende Häftlinge war sie der erste Berührungspunkt mit dem Konzentrationslager Bergen-Belsen: die Rampe des ehemaligen Truppenlagers Bergen. Dieser und angrenzende Bereiche sind heute ein Gedenkort und darüber hinaus ein eingetragenes Baudenkmal. Wird das historische Areal von einem Neubauprojekt der Deutschen Bahn bedroht?

Als der Flight Officer D. Pollard am Morgen des 17. September 1944 in seiner Supermarine Spitfire vom Flugplatz der Royal Air Force in Benson (England) abhob, ahnte er vermutlich nicht, dass ihn seine Mission in unmittelbare Nähe eines der größten deutschen Konzentrationslager führte. Ausgestattet war sein Flugzeug mit hochauflösenden Kameras – seine Aufgabe bestand an jenem Tag darin Luftaufnahmen zu Aufklärungszwecken zu machen. In mehreren Schleifen überflog Pollard den Truppenübungsplatz Bergen und schoss dabei unter anderem Aufnahmen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen sowie dessen angrenzenden Bereichen.

Die Landschaft auf den historischen Schwarzweißaufnahmen wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Schmale Wiesen- und Ackerstücke sowie vereinzelte Waldflächen dominieren. Die militärischen Einrichtungen des Truppenlagers Bergen ziehen mit einer Fülle von Kasernen, Hallen, Nebengebäuden und sonstigen Baulichkeiten jedoch unmittelbar den Fokus auf sich. Im Süden davon erkennbar: die Barackengebäude des Konzentrationslagers. 

Fast beiläufig dokumentieren die Luftaufnahmen nordwestlich der Ortschaft Belsen den Lagerbahnhof des Truppenlagers Bergen. Zu erkennen sind die große Verladerampe, mehrere parallel verlaufende Gleisstränge, das Stellwerk nebst benachbarter Drehscheibe sowie der noch heute vorhandene Wasserturm. Auf den Luftaufnahmen vom 17. September 1944 kann ebenfalls ein abgestellter Zug, bestehend aus mindestens zwölf Waggons, identifiziert werden. Auf den Dächern der Waggons wurden gut sichtbare Kreuze (verm. in der Farbe Rot) auf weißem Untergrund aufgemalt. Es liegt nahe, dass es sich um einen Lazarettzug gehandelt haben könnte.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Mit der Errichtung des Truppenübungsplatzes, der zunehmenden militärischen Nutzung des Areals und schließlich mit der Einrichtung des Konzentrationslagers legte sich der Deckmantel des Schweigens über die Landschaft. Über Züge die auf dem Lagerbahnhof eintrafen und deren Insassen liegen somit nur sehr spärliche Informationen vor. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch die Darstellung des ehemaligen Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und langjährigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Erhard Eppler. Als 18 jähriger Soldat war er in den letzten Kriegsmonaten zeitweise auf dem Truppenübungsplatz Bergen stationiert.

In Interviews gegenüber dem Spiegel (16.11.1983) und der Süddeutschen Zeitung (21.04.1985) beschrieb Eppler seine Erlebnisse. In seiner Darstellung erreichten ununterbrochen Lazarettzüge den Verladebahnhof Bergen – fast täglich wurden Teile seiner Kompanie abkommandiert, um Verwundete auszuladen. Dabei erlebte Eppler unbeschreibliches Elend – in den Zügen hatten „erbarmungslos zusammengeschossene Menschenleiber tagelang in Eiter, Blut, Speichel und Exkrementen zusammengepfercht gelegen.“ (Eppler, SZ, 21.04.1985). 

Viel schrecklicher empfand er jedoch die Zugtransporte, die für das KZ Bergen-Belsen bestimmt waren und die er und seine Kameraden beim Entladen der Lazarettzüge mit ansahen. Bei einer dieser Situationen trieb die SS – vermutlich ungarische – Jüdinnen mit der Peitsche aus den Güterwagen und weiter ins Konzentrationslager, so Eppler. Tote und Sterbende wurden gleichermaßen auf Lastwagen geworfen und abgefahren.

Bild: Karte des Lagerbahnhofs Bergen um 1938. Quelle: Topografische Karte, Reichsamt für Landesaufnahme, 1938.

Während über die Verwendung der Verladerampe auf dem Lagerbahnhof Bergen zur Be- und Entladung von KZ-Transporten mehrere Zeitzeugenberichte vorliegen, hält sich die Quellenlage mit Blick auf die ursprünglichen Nutzungszusammenhänge des Lagerbahnhofs bedeckt. Dies überrascht wenig, da die Rampe zunächst für die Verladung größerer Truppenkontingente errichtet worden war – also Vorgänge, die strengster Geheimhaltung unterlagen. 

Die baugeschichtlichen Zusammenhänge der Rampe sind daher nur fragmentarisch überliefert. Fest steht, dass der Truppenübungsplatz ab Mitte 1936 mit militärischen Einheiten belegt wurde – auf einem erhalten gebliebenen Gleisstrang ist zudem die Jahreszahl 1936 eingeprägt. In historischen Karten des Reichsamtes für Landesaufnahme in Berlin aus dem Jahr 1938 taucht der ausgebaute Lagerbahnhof bereits in voller Ausdehnung auf.

Bild: Zwei Soldaten der Wehrmacht - im Hintergrund der noch nicht vollständig fertiggestellte Lagerbahnhof Bergen - Ende der 1930er Jahre. Quelle: Archiv Altmann. 

Fotos, die gegen Ende der 1930er Jahre aufgenommen worden sind, zeigen den Lagerbahnhof noch ohne Kopfsteinpflaster. Wann und von welchen Arbeitskräften dieses verlegt worden ist, ist nicht bekannt. Im westlichen Bereich des Lagerbahnhofs waren die Gleise über mehrere Meter mit Holzbohlen ausgelegt, sodass Fahrzeuge auf die langgezogene Seitenrampe fahren konnten. Erst im Zuge einer Umbaumaßnahme im Jahr 2001 wurde ein Teil des Lagerbahnhofs zu einer Kopframpe umgestaltet – offenbar in Unkenntnis darüber, dass der Bereich bereits unter Denkmalschutz stand, wie die CZ am 21. September 2001 berichtete.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe nach Umbaumaßnahmen. Quelle: Altmann, 2022. 

Zu beachten ist, dass der Lagerbahnhof ursprünglich ausschließlich für die Verladung von Truppen, Fahrzeugen und militärischer Ausrüstung vorgesehen war. Später wurde diese Einrichtung dann genutzt, um Kriegsgefangene - zunächst französische und belgische, später dann tausende sowjetische - nach Bergen-Belsen zu transportieren. 

Für die Versorgung des Truppenlagers Bergen existierten gesonderte Gleisstränge, die sich westlich des Lagerbahnhofs anschlossen. In diesem Bereich – östlich der Straßenbrücke der heutigen L298 – befanden sich im Herbst 1944 mindestens zwei größere Gebäude noch im Aufbau, wie historische Luftaufnahmen belegen. 

Informationen zum Verwendungszweck dieser Gebäude liegen bislang nicht vor – im Gelände lassen sich dort nur noch vereinzelt Relikte feststellen. Es liegt jedoch nahe, dass diese Gebäude in unmittelbarem Zusammenhang zum Lagerbahnhof bzw. dem benachbarten Gleiskörper gestanden haben – später befand sich in diesem Bereich offenbar eine Gleiswaage. 

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

In westlicher Richtung hinter dieser teilten sich die Gleise – entsprechend der Einrichtungen, die sie versorgten – in das sogenannte Benzin-, Bäckerei-, Scheunen-, Kohlen- und Wäscherei-Gleis. Dies ist bemerkenswert, da für die erforderlichen Versorgungseinrichtungen des Standortes zusätzliche Gleisverbindungen bereits bei Errichtung des Lagerbahnhofs berücksichtigt worden waren – eine Gleisverbindung zum KZ Bergen-Belsen bestand jedoch nicht. Aus diesem Grund mussten die Häftlinge die Strecke von ca. 6,0 km zwischen Lagerbahnhof und Konzentrationslager zu Fuß bewältigen.

Bild: Relikte von ehemaligen Gebäuden, die in den Monaten vor Kriegsende westlich der L298 errichtet worden sind. Auf dem Abflussrohr ist eingeprägt "Steingutwerk Hermühlheim Deutschland". Quelle: Altmann, 2022. 

Als andere Konzentrationslager durch den raschen Vormarsch der Alliierten Streitkräfte im Osten und Westen zunehmend drohten aus dem eigenen Einflussbereich zu entgleiten, wurden die dort untergebrachten Häftlinge evakuiert. Zahlreiche dieser – teils als Fußmärsche und/oder als Bahntransporte – durchgeführten Evakuierungen entwickelten sich aufgrund völlig unzureichender Versorgung, mangelhafter Transportbedingungen und falsch eingeschätzter Transportzeiten unweigerlich zu sogenannten Todesmärschen. 

Im täglich schrumpfenden Einflussbereich der deutschen Verteidigungskräfte blieb das KZ Bergen-Belsen als eines der möglichen Ziele derartiger Transporte. Die rasch ansteigende Zahl der Häftlinge, Unterversorgung in jedweder Hinsicht und die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten trugen maßgeblich zur hohen Sterblichkeit in der Endphase des Zweiten Weltkriegs bei. Der Lagerbahnhof weist daher eine besondere historische Bedeutung auf – ohne diese logistische Infrastrukturanlage wäre die Verlegung großer Häftlingstransporte aus weit entfernten Konzentrationslagern undenkbar gewesen.

Bild: Gedenkstein am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

In der unmittelbaren Endphase des Zweiten Weltkriegs kam dem Lagerbahnhof nochmals tragische Bedeutung zu. Etwa 6.700 Häftlinge sollten zwischen dem 6. und 10. April 1945 in drei Bahntransporten aus dem Aufenthaltslager Bergen-Belsen evakuiert werden. Nur einer dieser Züge erreichte Theresienstadt – die anderen beiden wurden bei Tröbitz bzw. bei Farsleben von sowjetischen bzw. US Truppen befreit.

Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen e.V. (AG Bergen-Belsen) wurde die Verladerampe sowie angrenzende Bereiche des Lagerbahnhofs bereits vor rund 20 Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Die Verladerampe sowie deren angrenzende Bereiche sind heute eingetragene Kulturdenkmale. 

Unter großem Einsatz der AG Bergen-Belsen – und insbesondere der Vorsitzenden Elke von Meding – wurde der Gedenkort an der ehemaligen Verladerampe realisiert. Informationstafeln und ein alter Güterwagen untermauern die historische Kulisse am Gedenkort, an dem seit mehreren Jahren regelmäßige Gedenkveranstaltungen, wie z.B. „Lichter auf Schienen“, stattfinden.

Bild: Gedenkort "Waggon" an der Verladerampe. Quelle: Altmann, 2022. 

Im Rahmen des Bahnprojektes Hamburg/Bremen-Hannover wurde im „Dialogforum Schiene Nord“ Vorschläge für einen Aus- bzw. Neubau entsprechender Bahnstrecken erarbeitet – u.a. im Abschnitt zwischen Hamburg und Hannover. Die weiterentwickelte Lösung des sogenannten optimierten Alpha-E plus Bremen ging schließlich in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans ein – es begannen entsprechende Vorplanungen und Prüfungen möglicher bestandsnaher sowie bestandsferner Aus- bzw. Neubaustrecken. 

Vor diesem Hintergrund wurden bislang mittels Raumwiderstandsanalysen sogenannte Grobkorridore für die baulichen Aus-/neubaumaßnahmen gesucht – mit dem Ziel eine rechtssichere und abwägungsfreie Vorzugsvariante zu ermitteln, die letztlich Gegenstand der Parlamentarischen Befassung werden.

Bild: Schilder am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

Eine der als bestandsfern ermittelten Grundvarianten sieht den Neubau eines Streckenverlaufs von Celle über Bergen und weiter nach Norden vor. Während auf einer Dialogveranstaltung am 19. September 2022 in Celle noch keine Pläne der möglichen Streckenverläufe im Bereich von Bergen vorgestellt worden sind, äußerten sich die Planer der Bahn am 30. November 2022 im Rahmen der sogenannten Projektwerkstatt laut Presseberichten hierzu erstmals konkret. Demnach führt die Strecke über die Landstraße 298 – genau dort, wo sich der gepflasterte Knick zur Verladerampe befindet. 

Inzwischen sind detaillierte Pläne zum möglichen Streckenverlauf im Internet abrufbar. Medienberichten zufolge soll die Neubaustrecke nach aktuellem Stand angeblich favorisiert werden. 

Bild: Zufahrt zum Lagerbahnhof Bergen und der Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Die Neubaustrecke könnte den denkmalrechtlich geschützten Bereich des Lagerbahnhofs sowie dessen angrenzende Areale unmittelbar betreffen. Hiervon wäre ein außerordentlich sensibler Erinnerungsort in seiner Eigenschaft massiv beeinträchtigt. Grundsätzlich erscheint kaum vorstellbar, dass für einen  historisch derart vorbelasteten Bereich ein so gravierender Eingriff überhaupt ernsthaft erwogen wird. 

Immerhin wäre es völlig absurd, wenn ausgerechnet ein Ort, an dem die Relevanz von Eisenbahninfrastruktur für den Holocaust bis heute offensichtlich wird, seine rechtmäßige Eigenschaft als Mahnmal und Gedenkort in Teilen ausgerechnet wegen neuerer Eisenbahninfrastruktur einbüßen müsste. 

H. Altmann

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Stand: 02/2023




Mittwoch, 1. Februar 2023

Neuerscheinung: Der Fliegerhorst Wesendorf – zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen


Vorbestellungen möglich (siehe unten) 
Buchvorstellung am 24.03.2023 (siehe unten) 

Es erinnert heute nicht mehr allzu viel daran, dass sich bei Wesendorf bis April 1945 der größte militärische Standort im Landkreis Gifhorn befand. Bei genauem Hinsehen lassen sich bis heute jedoch vereinzelte Spuren feststellen. Ins Auge sticht insbesondere ein gleichmäßig bewachsener Geländestreifen im zentralen Bereich des ehemaligen Rollfeldes an dessen Enden auffällige Bodenunebenheiten angrenzen.

Es handelt sich um die Überreste von Baumaßnahmen, die bis zum Kriegsende unter Hochdruck betrieben wurden und die dazu dienten, den Fliegerhorst um eine betonierte Start- und Landebahn zu erweitern. Hintergrund: der bislang unbefestigte Flugplatz sollte für den Einsatz moderner Düsenflugzeuge – sogenannter „Strahlflugzeuge“ einsatzfähig gemacht werden. Von derartigen Neuentwicklungen und vermeintlichen Wunderwaffen erhoffte man sich eine entscheidende Wendung im längst verlorenen Krieg.


Schuften mussten bei Wesendorf vorwiegend Zwangsarbeiter. Dies war damals nicht unüblich – der Bedarf an personellem Nachschub für die Kriegsfronten hatte den heimischen Arbeitsmarkt durch militärische Einberufungen leergefegt. Der Einsatz von Zwangsarbeitern war alltäglich geworden und dennoch ist für den Ausbau des Fliegerhorstes Wesendorf eine Besonderheit zu bemerken. Zum Einsatz kamen hier hunderte Häftlinge der Zuchthäuser Wolfenbüttel und Celle.

Zum überwiegenden Teil waren es politische Häftlinge, d.h. keine Schwerverbrecher, die im sogenannten „Außenkommando Krümme“ – einem bewachten Barackenlager im Süden des Flugplatzes – unter unmenschlichen Umständen untergebracht waren. Verurteilt für Verbrechen, wie beispielsweise das Hören ausländischer Radiosender, das Lesen „feindlicher“ Propaganda oder geringfügige Diebstahlsdelikte, waren die Häftlinge schwerster körperlicher Arbeit, unzureichender Versorgung und der rohen Behandlung durch die Bewacher ausgesetzt. Etliche überlebten diese Zustände nicht – junge Männer starben mitunter an Körperschwäche und Herzversagen. Systematisch aufgearbeitet wurden diese Zusammenhänge bislang nicht.


Für sein Buch „Der Fliegerhorst Wesendorf – zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen“ wertete Hendrik Altmann archivalische Bestände und weiteres Quellenmaterial erstmals umfassend aus. Die Recherchen lieferten insbesondere Erkenntnisse darüber, wie die Zusammenarbeit zwischen den Zuchthausverwaltungen in Celle und Wolfenbüttel in Bezug auf die Bereitstellung von Arbeitskräften vonstatten ging. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen Rüstungsprojekten und Zwangsarbeit werden am Beispiel des Fliegerhorstes Wesendorf belegt.

Buch vorbestellbar per E-Main an: found-places@live.de





Donnerstag, 10. November 2022

Celle: Luftschutzraum unter der heutigen Stadtbibliothek


Dem Gebäude sieht man seine historischen Verwendungen heute kaum an. Zu diesen zählte während des Zweiten Weltkriegs auch die Unterbringung eines öffentlichen Luftschutzraumes im alten Kellergewölbe. 

In der heutigen Celler Stadtbibliothek befand sich einst Celles einziges Gymnasium .  Zwischen 1840 und 1843 wurde das Gebäude eigens für die Unterbringung des städtischen Gymnasiums an der Westercellertorstraße Nr. 5 errichtet. Diese Institution war darin bis 1916 untergebracht. Später zog die Höhere Landesbauschule (Albrecht-Thaer-Seminar) in das Gebäude ein. 

Als Bauwerk seiner Zeit war das Gebäude vollständig unterkellert. Die Kellerräume wurden als massive Tonnengewölbe aus Backstein errichtet. Die Stützpfeiler weisen an ihren längsten Seiten eine Stärke von ca. 1,5 m auf. Die massive Ausführung des Kellers und die zentrale Lage des öffentlichen Gebäudes trugen dazu bei, dass darin während des Zweiten Weltkrieges ein ziviler Luftschutzraum eingerichtet worden ist. 

In unmittelbarer Nähe existierte in der Union ebenfalls ein öffentlicher Luftschutzraum - dieser wies laut einer Aufstellung vom 17. September 1940 allerdings nur 55 Sitz- und 3 Liegeplätze auf. Um einen weiteren öffentlichen Luftschutzraum in zentraler Lage zu schaffen, wurde daher offenbar der Keller der Höheren Landesbauschule requiriert. Angaben zu der darin unterzubringenden Personenanzahl liegen nicht vor. 

Bild: Treppe zum Keller in der heutigen Stadtbibliothek. Quelle: Altmann: 2022. 

Es liegen auch keine Angaben zu der Ausstattung des öffentlichen Luftschutzraums in der ehemaligen Höheren Landesbauschule vor. Modernere Schutzräume waren damals bereits standardmäßig mit Luftfilteranlagen ausgerüstet. Hinweise für das Vorhandensein einer solchen fehlen in diesem Fall jedoch. 

Überliefert ist dagegen, dass der Luftschutzraum offenbar regelmäßig als solcher verwendet wurde. Ab 1942 erhöhte sich die Zahl der Luftangriffe durch die britische Royal Air Force (RAF) stetig. Im weiteren Kriegsverlauf beteiligte sich die US Air Force (USAAF) aktiv an den Luftangriffen. Im Regelfall flog die RAF nachts - die USAAF griff tagsüber an. Da Celle im Zuge der Angriffe auf Städte im Osten des Reichsgebietes mehrfach überflogen wurde, waren Luftalarme an der Tagesordnung. 

Der öffentliche Luftschutzraum in der Höheren Landesbauschule scheint in dieser Phase des Zweiten Weltkrieges regelmäßig frequentiert worden zu sein. Dies ergibt sich jedenfalls aus Aufzeichnungen, die im Celler Stadtarchiv erhalten geblieben sind. 

In einem Brief an den Celler Oberbürgermeister berichtete ein zuständiger Luftschutzordner, der im öffentlichen Luftschutzraum in der Höheren Landesbauschule seinen Dienst verrichtete, über "zahlreiche Disziplinlosigkeiten von Seiten Wehrmachtsangehöriger." In seinem Brief vom 15. März 1944 führte der Luftschutzordner aus, dass die Missstände im Luftschutzraum vorwiegend dann eingetreten seien, wenn das gegenüberliegende Kino durch Luftalarme geräumt werden musste. Die Kinoveranstaltungen wurden offenbar vielfach durch Wehrmachtsangehörige besucht - im Alarmfall begaben sich diese dann zum nächstgelegenen Luftschutzraum in der Höheren Landesbauschule. 

Bild: ehemaliger Kinosaal an der Magnusstraße. Quelle: Altmann: 2022. 

Die Wehrmachtsangehörigen kämen vielfach mit den Worten in den Luftschutzraum: "Wir wollen mal sehen, ob im Keller was los ist.", berichtete der Luftschutzordner in seinem Brief weiter. Er nahm an, dass die Soldaten Anschluss suchten - seiner Schilderung zufolge verließen sie den Schutzkeller aber bald wieder. Es entwickelte sich ein ständiges unerlaubtes Kommen und Gehen. 

Darüber hinaus brachten die Wehrmachtsangehörigen offenbar größere Mengen Alkohol mit in den Luftschutzraum, rauchten darin und bedrängten die anderen Anwesenden. Es kam darüber hinaus nach Aussage des zuständigen Luftschutzwartes zu vielen weiteren Ausschreitungen, die er allesamt mit der Anwesenheit der Wehrmachtsangehörigen in Verbindung brachte. 

Bild: Blick in den ehemaligen Luftschutzraum unter der Höheren Landesbauschule - heute der Keller der Stadtbibliothek. Quelle: Altmann: 2022. 

Es ist bislang nicht bekannt, ob die Mitteilung des Luftschutzordners an den Oberbürgermeister damals irgendwelche Konsequenzen nach sich trug. In dem schriftlichen Dokument befinden sich Hinweise, dass es auch in anderen Luftschutzanlagen im Stadtgebiet zu ähnlichen Ausschreitungen von Seiten Wehrmachtsangehöriger gekommen sein soll. Bestätigungen von anderer Seite fehlen bisweilen hierfür jedoch. 

Bild: Ausschnitt des Briefes des Luftschutzordners aus dem Luftschutzraum unter der ehem. Höheren Landesbauschule. Quelle: Stadtarchiv Celle, Best Celle, StadtA Best. 5 O, 012.

Dennoch ist der Brief des Luftschutzordners eine wichtige historische Überlieferung - schließlich liegen kaum Belege dazu vor, dass es im Keller der heutigen Stadtbibliothek damals einen öffentlichen Luftschutzraum gegeben hat. Aus dieser Quelle geht jedenfalls eindeutig hervor, dass der Schutzraum existierte und ganz offenbar auch mit gewisser Regelmäßigkeit genutzt worden ist. 

Bild: Blick in den ehemaligen Luftschutzraum unter der Höheren Landesbauschule - heute der Keller der Stadtbibliothek. Quelle: Altmann: 2022. 

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich die Kellerräume der ehemaligen Höheren Landesbauschule stark verändert. An die einstige Nutzung als öffentlicher Luftschutzraum erinnert im heutigen Keller der Celler Stadtbibliothek so gut wie nichts mehr. Die Wände wurden gestrichen, die Böden wurden teilweise nach einem Eintritt von Hochwasser angehoben und darüber hinaus wurden neue Leitungen und Rohre verlegt. 

Einzig die massiven Wände und Stützpfeiler erlauben aus heutiger Sicht noch Rückschlüsse darauf, dass die alten Kellergewölbe aus damaliger Sicht vermutlich als Schutzräume geeignet erschienen sein mögen. Im Falle eines tatsächlichen Luftangriffs hätte der Luftschutzraum für die Insassen wohl aber kaum ausreichenden Schutz geboten. Soweit es keine zusätzliche Frischluftzufuhr gab, wäre der Luftschutzkeller im Ernstfall schnell zu einer tödlichen Falle geworden. Glücklicherweise ist es vor Ort nie zu einem solchen Ernstfall gekommen. 

H. Altmann


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Stand: 11/2022




Dienstag, 11. Oktober 2022

Was geschah im tauben Tal?


In Karten ist es nicht verzeichnet. Düstere Legenden ranken sich um seine Geschichte. Das "taube Tal" ist demnach kein Ort der zum Verweilen einlädt. 

Der Dichter Hermann Löns empfand die Landschaft der Fahlen Heide zwischen Gifhorn und Leiferde dagegen offenbar alles andere als abschreckend. Ansonsten hätte er sich dort wohl kaum ab 1904 in gewisser Regelmäßigkeit für Natur- und Jagdbeobachtungen aufgehalten. Im Werk "Haidbilder" erwähnt Löns das sogenannte "taube Tal" - einen verwunschenen Ort, der sich seiner Darstellung nach gar nicht weit vor den grünen Wiesen der Aller (...) unweit des Dorfes Winkel zwischen Gifhorn und Brenneckenbrück befindet

Löns beschreibt das taube Tal als einen trostlosen Ort. Weder Heide noch Bäume halten den Sandboden fest. Alle Bemühungen dort etwas zu anzupflanzen seien gescheitert, so Löns. "Denn das Tal ist verflucht für immerdar, weil unschuldiges Blut dort floss." In seinem 1913 erschienenen Buch unterstreicht Löns dies durch verschiedene Geschichten, die sich im tauben Tal zugetragen haben sollen. 

Ein Wilderer soll dort eine unheimliche Begegnung mit einem weißen Rehbock gehabt haben. Ein Gelehrter - dem Anschein nach ein Archäologe - war mit Ausgrabungen im tauben Tal beschäftigt, als plötzlich ein "uralter und in Lumpen gehüllter Mann" auftauchte. Wanderer, die sich dort Nachts verlaufen hatten, sollen von dämonischen Wesen und gruseligen Erlebnissen berichtet haben, so Löns.  

Bild: Informationstafel bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Neben diesen düsteren und unheimlichen Berichten, findet Löns in seiner Erzählung zum tauben Tal eine mögliche Erklärung für den Fluch, der seiner Darstellung zufolge auf dem Tal lastet. 

"In dem tauben Tale hat einst ein Bauernhof gestanden. Als im dreißigjährigen Krieg die  Kaiserlichen in der Gegend raubten und brannten, fanden sie zu dem Hofe, der gut versteckt lag, nicht hin, bis er ihnen von einem Knecht verraten wurde, der dort im Dienst war und von der Haustochter abgewiesen war. Die Soldaten brachten alles um, was auf dem Hofe lebte, pochten ihn aus und steckten ihn an. Als der Knecht aber seinen Lohn haben wollte, lachten sie ihn aus und gaben ihm einen alten Strick. Da seine Meintat sich in der Gegend herumgesprochen hatte, wollte ihn kein Mensch wieder in Dienst nehmen und so ging er unter die Soldaten. Nach vielen Jahren kam er als Krüppel wieder, bettelte eine Zeit lang in Gifhorn herum, bis sich herausstellte, wer er war und der Büttel ihn aus dem Tore wies. Da ging er nach dem abgebrannten Hofe und ertränkte sich in dem See, der dicht dabei liegt.

Seitdem liegt der Ort wüst. Der Wind hat den losen Sand über die Stätte geweht und ihn so aufgetürmt, dass er wie lauter Grabhügel aussieht. Rundherum wuchert die Heide, grünen die Wiesen, stehen die Fuhren im dichten Moose. Die Stelle aber, auf der der Hof lag, bleibt taub und tot. 

Wer Abends dort vorüber geht und sieht in die Öde hinein, dem friert das Herz, auch wenn er nicht weiß, was sich dort zugetragen hat." (Quelle: Löns, Das taube Tal, in Löns, Haidbilder, 1913, S. 122.)
 
Bild: Fahle Heide bei Gifhorn. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Zunächst einmal überrascht es, wie detailliert Löns die historischen Zusammenhänge schildert - fast als wäre er selber dabei gewesen. So mag aus heutiger Sicht unvermittelt der Eindruck entstehen, dass die Erzählungen um das taube Tal vollständig erdacht sein müssen. Sicherlich mag die Geschichte früher noch größeren Eindruck auf den Leser gemacht haben - dennoch lassen sich bis heute realistische Elemente in seiner Darstellung zum tauben Tal feststellen. 

Die Landschaft zwischen Brenneckenbrück, Winkel und Gifhorn ist außergewöhnlich und sehr abwechslungsreich. Hier erstreckt sich die "Fahle Heide" - das Gelände ist hügelig und dort, wo kein Oberflächenbewuchs existiert, klaffen gelegentlich sandige Stellen hervor. In direkter Nachbarschaft befinden sich Wälder und moorastige Stellen - die örtliche Fauna präsentiert hier zweifelsohne ein sehr breites Spektrum. Für jene Vielseitigkeit der Natur lieferte Löns offenbar die einfache Erklärung, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugehen kann. 

Bild: unzugängliche Moore bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Nicht zu bestreiten ist, dass die Umgebung und das Wetter stets eine gewisse Wirkung auf Menschen entfalten. An einem hellen, aufgelockerten Tag mag die Landschaft nördlich von Winkel vergleichsweise unauffällig wirken. In der düsteren Jahreszeit - vielleicht bei Nebel oder an regnerischen Tagen - verändert sich die Wirkung aber sicherlich. Löns scheint hierauf ebenfalls anzuspielen, denn die unheimlichen Begebenheiten treten stets zu bestimmten Tageszeiten auf. 

Bild: düstere Stimmung in der Heide bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Eine Überprüfung der Erzählungen wird allerdings alleine schon deswegen erschwert, weil der genaue Standort des tauben Tals nicht bekannt ist. Er lässt sich allenfalls vage eingrenzen. Archäologische Belege, die die Darstellung stützen könnten, liegen nicht vor. Gleichwohl blickt die Gegend zwischen Winkel und Gifhorn durchaus auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück - auch, wenn der Ort Winkel selbst noch gar nicht so alt ist. Er entstand als eine Kolonistensiedlung im 18. Jahrhundert. 

In direkter Nähe zu dem Bereich, den man heute als taubes Tal annimmt, existierten allerdings mehrere historische Orte. Hierzu gehört unter anderem eine mögliche mittelalterliche Wallanlage, die bis heute gut im Gelände zu erkennen ist. Den frei zugänglichen Informationen im Niedersächsischen Denkmalatlas ist zu entnehmen, dass es sich um eine kleine viereckige Burganlage mit einer Innenfläche von ca. 660 m² handelt. Wem diese Burg zuzuordnen ist, wann sie bewohnt oder verlassen wurde und welchem Zweck sie diente, ist nicht bekannt. Schriftquellen zu der Burg liegen bislang nicht vor. 

Unweit des vermeintlichen tauben Tals steht ein massiver Findling vor einer 1,20 m dicken Eiche. "Schindereiche" heißt es auf dem Stein. Der Baum wächst möglicherweise an der Stelle, die einst als Schinderanger diente und auf die man eingegangene und verendete Tiere brachte. Heute würde man dies als Abdeckerei bezeichnen. 

Bild: Schindereiche nordöstlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Historischen Karten ist zu entnehmen, dass sich die Landschaft im Bereich des tauben Tals über die Jahrhunderte stark verändert hat. Einst befand sich in dieser Gegend der sogenannte "Hehlen Teich" - in Karten, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstellt wurden, ist der ausgedehnte Hehlen Teich noch verzeichnet. In einer Karte vom Lauf der Aller und Umgebung von Gifhorn über Müden bis Flettmar und Nienhof ist der Teich bereits als "abgelassen" bezeichnet worden - offenbar erfolgte ein Durchstich vom südlich verlaufenden Allerkanal durch den Hehlen Teich bis in die nördlich verlaufende Aller. 

Im Ergebnis fiel der Hehlen Teich trocken - heute wird die so gewonnene Fläche als Weideland genutzt. Durch den Ausbau des Allerkanals wurde die sumpfige Umgebung zusätzlich entwässert. 

Bild: Ausschnitt aus der Karte vom Lauf der Aller und Umgebung von Gifhorn über Müden bis Flettmar und Nienhof vom 1823. Quelle: Digitalisate von NLA HA Kartensammlung Nr. 31 f/53 pg (Kennzeichnung als Public Domain)

Charakteristisch für das Naturschutzgebiet "Fahle Heide" sind nicht nur die Heideflächen. Prägend sind auch die hier stellenweise noch häufig vorhandenen Schlatts (niederdeutsch "slat" = moorige Vertiefung in der Heide) - so heißt es auf einem örtlichen Hinweisschild. 

Tatsächlich scheint eben dieses besondere Landschaftsbild unmittelbar mit den Erzählungen zum tauben Tal zusammenzuhängen. 

Bild: moorige Flächen nördlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

An historischen Orten im Bereich des vermuteten Standortes des tauben Tals mangelt es also nicht. Die Gegensätze in der Landschaft dürften vor den weitreichenden menschlichen Eingriffen noch deutlicher gewesen sein. Das ursprüngliche Landschaftsbild ist heute nur noch in wenigen Teilen erhalten. 

Hermann Löns hielt seine Eindrücke und die Geschichten um das taube Tal literarisch fest - allerdings ohne weitere Quellen zu benennen. Die Darstellung, dass im tauben Tal früher ein Hof existierte, lässt sich weder anhand urkundlicher Aufzeichnungen - noch anhand archäologischer Funde belegen. 

Bild: Heideflächen nördlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022.

Unter dem Strich gibt es - mit Ausnahme der Erzählung von Löns - heute keine besonderen Anzeichen dafür, dass sich in dieser Gegend irgendwelche übernatürlichen Dinge manifestieren. Es mag natürlich auch immer etwas davon abhängen, wie empfänglich man für so etwas ist. 

Nichtsdestotrotz hat die Landschaft vor Ort einen besonderen Charme. Kommt das passende Wetter hinzu so mag die Umgebung, in der man heute das taube Tal vermutet, vielleicht sogar etwas gruseliger wirken als andere Orte. 

H. Altmann

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Stand: 10/2022