
Im Jahr 1925 wurde nördlich der Ortschaft
Scheuen, bei Celle, ein Landerziehungsheim gegründet.[1]
Zuvor gab es dort bereits ein Erholungsheim des Landesjugendamtes Berlin. Dazu
hatte die Stadt Berlin zuvor Teile des früheren (Marine-)Flugplatzes und des
ehemaligen Gefangenenlagers im Wald nördlich von Scheuen für rund 38.000 Mark
erworben.[2]
Es wurde zwischen einer Haushaltsschule für weibliche - und einem Heim für
männliche Berliner Führsorgezöglinge unterschieden. Als „Fürsorgezöglinge“ wurden
jene Heranwachsenden bezeichnet für die das Deutsche Reich, also der Staat, aus
unterschiedlichen Gründen die Fürsorge übernommen hatte. Die Jugendlichen
sollten im Heim mit der landwirtschaftlichen Arbeitsweise vertraut gemacht werden, um
sie später in bäuerliche Betriebe einzugliedern.[3]
Das damals vertretene pädagogische Konzept sah vor, dass die Jugendlichen auf
„moderne“ Weise mittels möglichst freiheitlicher Methoden erzogen werden
sollten. Die bis dahin in der schulischen und außerschulischen Erziehung weit
verbreitete Prügelstrafe sollte in dieser modernen Erziehung keinen Platz
finden. Faktisch wurde sie jedoch sowohl von den Erziehern, als auch vom
Heimleiter teilweise exzessiv gegenüber den männlichen Jugendlichen angewandt.[4]
Es kam in Scheuen ebenfalls zu massiven Ausschreitungen, zumal die Heimleitung
gewalttätige Formen der Selbstjustiz seitens der Jugendlichen tolerierte.
[1] Pflegekinder, Heft 2 2012, S. 54.
[2] Weltzien, O., Celler Geschichte im Grundriss
dargestellt, S. 202.
[3] Pflegekinder, Heft 2 2012, S. 54.
[4] Pflegekinder, Heft 2 2012, S. 54.

Karte des ehem.
Erziehungsheims Scheuen. Quelle: Map War Office 1945, Google Earth.
Leiter der Heime nördlich von Scheuen war
Direktor Straube, welcher zuvor Volksschullehrer in Berlin gewesen war. Er
hatte die Heime einrichten lassen.[1]
Die Erziehungsanstalt bei Scheuen galt in ihrer Zeit als eine
„Mustereinrichtung“ zumal sie aufgrund ihres jungen Alters als sehr
fortschrittlich und modern verstanden wurde. Trotz dieser augenscheinlich
positiven Außendarstellung entsprach dies nur selten der Realität – Prügel,
Gewalt und schlechte Behandlung der Jugendlichen standen an der Tagesordnung.[2]
Scheinbar wurde dem Heimleiter zwar mehrfach die Anwendung der Prügelstrafe
seitens des Landesjugendamtes in Berlin erklärt – dies blieb jedoch erfolglos.
Schließlich verließ sogar ein Erzieher freiwillig die Einrichtung, weil er
nicht mit den Maßnahmen Straubes einverstanden war.[3]
Im Februar des Jahres 1930 kam es zu einer
folgenschweren Revolte im Erziehungsheim bei Scheuen. Zu dieser Zeit waren ca.
55 männliche Jugendliche untergebracht – ihnen standen nur der Direktor Straube
sowie vier offizielle Aufseher gegenüber. Es war zu Unruhen wegen des
schlechten Essens und der miserablen Behandlung gekommen. Am Abend des 18.
Februar 1930 zog eine Gruppe von 25 Jungen los und zerschlug Fensterscheiben.
Sie versuchten ebenfalls Mädchen aus der nahegelegenen Haushaltsschule zu
befreien – der Versuch misslang.
[1] Gries, J., Ebner v. Eschenbach, M-F., Ruhl, N., Zur
Situation der Heimerziehung in Berlin West (1950 – 1970) und Berlin Ost
(1950-1990), S. 9.
[2] Gräser, M., Der blockierte Wohlfahrtsstaat, S. 104.
[3] Gräser, M., Der blockierte Wohlfahrtsstaat, S. 104.

Gelände des ehem.
Erziehungsheims Scheuen. Quelle: Google Earth.
Direktor Straube bewaffnete derweil eine
willige Truppe von Jugendlichen mit Gummiknüppeln und Ackergeräten – darunter
unter anderem Harken, Spaten und Äxte. Nach einem Schreckschuss aus einer
Flinte zogen diese Jugendlichen auf ihre Kameraden los. Vielen Jugendlichen
gelang zunächst die Flucht vor ihren Verfolgern. Zwei blieben jedoch zurück
und wurden von Direktor Straube und seiner Truppe verprügelt. Einer von beiden,
der junge Hans Ledebur, erlitt schwere innere Verletzungen, an denen er nur
wenige Wochen später im Celler Krankenhaus verstarb. Die restlichen
geflüchteten Jugendlichen wurden nach und nach in den angrenzenden Wäldern
aufgegriffen und zurück ins Heim gebracht. Dort wurden sie schwer misshandelt.

Baracken des ehem.
Erziehungsheims Scheuen. Quelle: Postkarte 1930.
Die Ereignisse des Februars 1930
wurden im sich anschließenden „Scheuen-Prozess“ vom 18. Juni bis 25. Juni 1931
vor dem Schwurgericht Lüneburg aufgearbeitet.[1]
Heimleiter Straube wurde wegen vorsätzlicher Körperverletzung, bzw. deren
Veranlassung und Duldung in 25 Fällen, zu 2 Jahren Gefängnis verurteilt. Von 34
Jugendlichen wurden zwei freigesprochen. Einer erhielt eine Geldstrafe in Höhe
von 30 Reichsmark und der Rest wurde zu geringen Gefängnisstrafen verurteilt.
Obwohl die Urteile recht milde ausfielen, waren die Folgen des
Scheuen-Prozesses durchaus gravierend. Erstmals wurde die staatliche
Fürsorgeerziehung grundsätzlich überdacht. Unmittelbar nach der Revolte in
Scheuen war es im Schleswig-Holsteinischen Erziehungsheim Rickling ebenfalls zu
Unruhen gekommen – auch hier wurden Urteile gegen Erzieher und Heimleitung
gefällt. Die gravierenden Missstände in der staatlichen Heimerziehung wurden
öffentlich – zahlreiche Heime wurden daraufhin geschlossen. Viel zu spät, denn
wie in den Prozessen deutlich wurde, war es in den Heimen zu teilweise
unmenschlichen Ausschreitungen gegen die Jugendlichen gekommen. In Rickling
sollen Jugendliche teilweise bis aufs Blut und an die Grenze zur
Bewusstlosigkeit geprügelt worden sein. Der Psychologe, Sozialforscher und
Direktor des Thüringer Jugendgefängnisses in Eisenach, Curt Werner Bondy (1894
– 1972) betonte im Jahr 1930, dass Heimleiter Straube aus Scheuen keineswegs
der
„Sadist
oder der besonders schlechte Charakter ist, als der er oft in Zeitungen
dargestellt wird (...). Dass er letzten Endes nur ein schwacher
Durchschnittsmensch und ein schlechter Erzieher (ist), gerade das macht die
Vorgänge in Scheuen so unheimlich und gefährlich; wir müssen fürchten (...),
dass es noch mehr Anstaltsleiter vom Schlage Straubes gibt.“ [2]
In Scheuen sollten ursprünglich nur solche
Jugendlichen einquartiert werden, die sich bereits zuvor in geschlossenen
Heimen bewährt hatten und die eine gute Aussicht hatten in landwirtschaftliche
Betriebe eingegliedert zu werden. Es fanden sich jedoch auch zahlreiche
Zöglinge dort, die diesen Vorgaben nicht entsprachen. Die „moderne“ Erziehung
in Form von freiheitlicher Selbstverwaltung bot reichnlich Platz für
Selbstjustiz unter den Jugendlichen. Heimleiter Straube vermochte der Zustände
nicht Herr zu werden. Zwar wurde er angehalten die Prügel zu unterlassen –
missachtete dies aber ohne Konsequenzen. Erst als die Lage im Februar 1930
eskalierte wurden die katastrophalen Zustände in den Fürsorgeerziehungsheimen
öffentlich. Auch in Scheuen war es zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen
gekommen.
[1] Pflegekinder, Heft 2 2012, S. 54.
[2] Bondy, C., Kritisches zur Fürsorgeerziehung, in
Zentralblatt für Jugendrecht und Jugendwohlfahrt, 22. Jg, Nr. 5, August 1930,
S. 145 – 147.

Weibliche Insassen des ehem.
Erziehungsheims Scheuen. Quelle: Postkarte um 1930.
Heute erinnert recht wenig an das einstige
Landerziehungsheim bei Scheuen. Die Gebäude – zumeist waren es Baracken aus
Holz – wurden abgebrochen. Ein großer Wohnbau gegenüber des Einfahrtstores des
ehemaligen Standortübungsplatzes ist noch gut erhalten.

Wohnbau des ehem. Landerholungsheimes bei
Scheuen. Quelle: Postkarte um 1930.

Wohnbau des ehem. Landerholungsheimes bei
Scheuen. Quelle: Hendrik Altmann.
Hendrik Altmann
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