Der Flusslauf der Aller hat sich im Laufe der Geschichte stark verändert. Vor allem durch menschliche Eingriffe in das natürliche Landschaftsbild. Vom Urstromtal bis hin zu einem durch Stauwehre regulierten Verlauf. Eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse.
Wenig erinnert heute noch an die ursprünglichen Verhältnisse, wie sie einst in Bezug auf den Lauf der Aller im Bereich oberhalb von Celle vorherrschten. Die Aller entstand als eiszeitliche Abflussrinne, als "Urstromtal" mit einer durchschnittlichen Breite von ca. 20 km in der vorletzten Eiszeit - also ab einer Zeit vor etwa 235.000 Jahren.
Der Wechsel von Warm- und Kaltzeiten, das Abschmelzen großer Gletscher und der Abtransport des Schmelzwasser sowie des abgeschwemmten Materials formten nach und nach den heutigen Landschaftsraum. Im Bereich oberhalb von Celle entstand ein Vielstromsystem mehrerer kleiner, teilweise wild verlaufender Wasserläufe, die je nach Wasserführung unterschiedlich ausgeprägt waren.
Die Aller markierte seit jeher territoriale und politische Grenzen - einst, wie auch heute. Hier lag bereits im Mittelalter der nördlich befindliche Gretingau dem südlich der Aller gelegenen Flutwide gegenüber. Heute markiert die Aller an selbiger Stelle die politischen Grenzen zwischen der Samtgemeinde Flotwedel und der Samtgemeinde Lachendorf.
Was der Mensch über Jahrhunderte als naturgegeben angesehen hatte, geriet mit der anwachsenden Bevölkerungsdichte zunehmend auf den Prüfstand. Siedlungen und Äcker mussten vor unberechenbaren Hochwassern geschützt werden - gleichzeitig war das Wasser ein wichtiger Nährstofflieferant.
Bild: ursprünglicher Allerlauf oberhalb von Celle/Altencelle. Quelle: NLA HA Kartensammlung Nr. 31 c/21 pg, Kennzeichnung als public domain.
Ausschlaggebend für der landwirtschaftlichen Wasserbau war in erster Linie die Grünlandwirtschaft im hiesigen Raum. Aber auch die wasserwirtschaftlichen Bedürfnisse der örtlichen Gewerke, wie beispielsweise der Wassermühlen mussten berücksichtigt werden. Erste gravierende Eingriffe in den natürlichen Flusslauf der Aller erfolgten im Zuge der Anlage des Mühlengrabens (bzw. Mühlenkanals) und die hiermit verbundene Errichtung der Langlinger Schleuse gegen Ende des 18. Jahrhunderts.
Schleusen kam früher eine besondere Bedeutung zu, denn schließlich galt es das nährstoffreiche Wasser für die landwirtschaftliche Bewässerung zu nutzen. Hölzerne Schleusen und Stauwehre ermöglichten es, den Wasserstand auf Feldern und Wiesen zu regulieren. So versorge die alte Oppershäuser Schleuse beispielsweise den Osterbruchkanal an den sich wiederum Staugräben anschlossen, die das Osterbruch bei Osterloh mit wasser versorgten.
Im Abschnitt der Aller bei Celle existierten früher mehrere Staugenossenschaften, die für die Oberflächenbewässerung zuständig waren. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde die Melioration - insbesondere im Flotwedel - stark vorangetrieben. Sogenannte Rieselwiesen ermöglichten es, durch ein durchdachtes System von Be- und Entwässerungsgräben den Grasertrag um ein Vielfaches zu steigern.
Die Hochwassersituation blieb jedoch fortwährend unberechenbar. Insbesondere dann, wenn im Harz die Schneeschmelze einsetzte, gelangten große Wassermengen über die Oker in die Aller. Zu Hochwasser kam es aber auch gelegentlich in den Sommermonaten. Aufgrund der ausufernden Flussmeander oberhalb von Celle konnten diese Wassermengen nicht schnell genug abgeleitet werden. Die Folge: die Aller trat insbesondere in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg mehrfach heftig über ihre Ufer.
Gravierende Hochwasserschäden, die sich im Falle der Sommerhochwasser unmittelbar auf den Ernteertrag auswirkten, trugen zur Gründung des Wasserverbandes Mittelaller im Jahr 1958 bei. Sein Verbandsgebiet erstreckte sich auf einer Strecke von rund 33 km zwischen der Okermündung bei Müden und Celle. Hauptaufgabe des Wasserverbands war es, eine schadlose Abführung der Sommerhochwasser zu erreichen.
In den Jahren nach 1958 konnten fast 10 km Flusslauf ausgebaut werden und ein vollautomatisches Wehr bei Osterloh in Betrieb genommen werden. Die Bauarbeiten Im Allerabschnitt zwischen Langlingen und Celle wurden zu erheblichen Teilen durch das Westerceller Bauunternehmen Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG ausgeführt.
Das Unternehmen war bereits im Zweiten Weltkrieg an zahlreichen Großbauprojekten beteiligt - u.a. im Bereich der Küstenbefestigungen des Atlantikwalls, auf Großbaustellen in Osteuropa und beim Bau von Rüstungsanlagen innerhalb des Reichsgebietes. In Hambühren hatte das Unternehmen im Zuge der Baumaßnahmen in Zusammenhang mit dem Rüstungsvorhaben "Hirsch" hunderte weibliche jüdische KZ-Häftlinge beschäftigt. Nach Kriegsende war die Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG am Bau von Autobahnen, Deichanalgen, Sportanlagen, Brücken, Straßen u.v.m. beteiligt.
Im Jahr 1960 begannen die Bauarbeiten am Allerwehr am sogenannten Thee-Winkel bei Osterloh. Mittels eines Durchstichs durch die langgezogene Flussschleife der Aller wurde eine Verkürzung des Flusslaufes um rund 2.000 m erzielt. Im Bereich des Durchstichs wurde mit dem Bau des neuen Wehrs begonnen.
Bild: Einziehen von Spundwänden und Betonierungsarbeiten. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
Etwa 130 m breit war die engste Stelle des sogenannten Thee-Winkels, an der der Durchstich erfolgte. Nur unter großen Anstrengungen gingen die Bauarbeiten voran. Am 10. Dezember 1960 schrieb die Cellesche Zeitung hierzu:
"Augenblicklich stehen jedoch die Männer der Firma Thiele-Marahrens im harten Kampf mit den Wasserfluten. Es ist, als ob die Aller noch in der letzten Minute verhindern wollte, dass die Menschen mit ihrem Eingriff den alten Flusslauf begradigen."
Bild: Durchstich am Thee-Winkel bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
Bis in den Sommer des Jahres 1961 zogen sich die Bauarbeiten bei Osterloh hin. Die Hannoversche Presse schrieb am 4. August 1961 darüber:
"Der Zufluss der ungebärdigen Oker in die Aller ist zum größten Teil schuld an diesen katastrophalen Hochwassern der letzten Jahre. Daher ist es nötig, dem Fluss "Manieren" beizubringen. Hier am sogenannten Thee-Winkel bei Osterloh geschieht das durch das neue Wehr, das den Fluss um 2.000 Meter verkürzt."
Das fast 90 m breite Doppelprofil der Mittelaller wurde durch zwei hochwasserfreie Leitdämme auf die 16 m breite Wehröffnung hin eingeengt.
Bild: Blick in das trockengelegte Wehr bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
Zum Bau des Wehrs wurden rund 8.500 Kubikmeter Boden ausgehoben. Auf der gesamten Flussstrecke zwischen Altencelle und Wienhausen waren es insgesamt rund 80.000 Kubikmeter bewegter Boden. Für das Wehr bei Osterloh wurden 1.300 Kubikmeter Beton und ca. 35 Tonnen Stahl verbaut. Alleine die mächtige Wehrklappe maß rund 12 Tonnen.
Die Wehranlage an sich war auf dem modernsten Stand der Technik. Fischtreppen sowie Vorrichtungen für Paddler waren beim Bau entsprechend berücksichtigt worden.
Bild: Das fertiggestellte Wehr bei Osterloh. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
Im Allerabschnitt zwischen Langlingen und Celle haben die Flussbegradigungen der Aller überdeutliche Spuren hinterlassen. Zahlreiche abgetrennte Meander zeugen heute als "tote" Flussarme vom Eingriff in den natürlichen Verlauf der Aller.
Nach Abschluss der ersten Ausbauphase im Bereich zwischen dem neuen Wehr bei Osterloh und der halben Strecke bis Wienhausen, folgte ab 1963 der Ausbau des Flussabschnitts unterhalb der Allerbrücke zwischen Wienhausen und Oppershausen. Der heute fast gradlinige Allerverlauf ist ein reines Kunstprodukt - ursprünglich wies die Aller in diesem Bereich ebenfalls einen deutlich geschwungeneren Verlauf auf, wie die historischen Karten belegen.
Bild: Flussabschnitt unterhalb der Allerbrücke zwischen Wienhausen und Oppershausen. Quelle: H. Altmann, 2021.
Ab 1964 erfolgte der Ausbau der Aller im Bereich Altencelle. Ab 1966 wurde die Aller unterhalb des Osterloher Wehrs begradigt. Es folgte ab 1967 der Ausbau des Flussabschnitts zwischen Schwachhausen und Offensen.
Ab 1968 wurde der Abschnitt zwischen Offensen und Oppershausen ausgebaut, wobei insbesondere auch der Bau des neuen Allerwehrs bei Offensen ("Oppershäuser Schleuse") erfolgte. Alleine im Abschnitt zwischen Schwachhausen und Wienhausen konnten durch die gradlinige Umgestaltung des Allerverlaufs mehrere Flusskilometer "eingespart" werden.
Bild: Baumaßnahmen zur Flussbegradigung oberhalb von Altencelle. Quelle: Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
Das Ergebnis der Begradigungsmaßnahmen war eine massive Umgestaltung des ursprünglichen Verlaufs der Aller. Eine Maßnahme, die sich bis heute anhand der zahlreichen Altarme nachvollziehen lässt. Das Landschaftsbild wurde durch den menschlichen Eingriff nachhaltig verändert. Gleichzeitig entstanden auf diese Weise neue Lebensräume für Tiere, die sich nun an/in den "stillgelegten" Flussarmen ansiedelten.
Bild: Aller und ihre toten Flussarme oberhalb von Schwachhausen. Quelle: H. Altmann, 2021.
Im Zuge der Baumaßnahmen zur Allerbegradigung wurde das ursprüngliche Flussbett jedoch nicht einfach nur umgelegt und verkürzt. Es wurden stattdessen vielmehr Eingriffe vorgenommen, die die Aller in das neue Flussbett zwangen. Unter anderem wurde das neue Flussbett durch Matten geflochtener Zweige ausgekleidet, die mit großen Steinen beschwert wurden. Diese findet man heute in vielen Bereichen am Ufer - die Steine sind aber natürlich keineswegs auf natürliche Weise an Ort und Stelle gelangt.
Mittlerweile sind einige alte Flussarme bereits stark verlandet. Der ursprüngliche Verlauf der Aller kann somit nur noch im Abgleich mit historischen Karten rekonstruiert werden.
Bild: Aller und ihre toten Flussarme gegenüber von Bockelskamp. Quelle: H. Altmann, 2021.
Inzwischen hat sich die Sichtweise auf den Umgang mit der Aller als ökologischen Lebensraum offenbar gewandelt. Was in den 1960er Jahren durch aufwändige und kostenintensive Eingriffe herbeigeführt worden ist, wird nun durch wiederum aufwändige und kostenintensive Eingriffe wieder beseitigt.
Das Allerwehr bei Osterloh wird hochwasserneutral zurück gebaut. Die Flussschleife im Thee-Winkel wird wieder "in betrieb" genommen. Im Ergebnis soll die Aller bei Osterloh wieder "ökologisch durchgängig" werden.
Bild: Baumaßnahmen an der Aller am Thee-Winkel bei Osterloh. Quelle: H. Altmann, 2021.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es zunächst die natürlichen Gegebenheiten waren, die dem Naturraum ihr Gepräge gaben. Im Laufe der Zeit vereinnahmte der Mensch auch diesen Naturraum immer mehr für seine eigenen Interessen. Wirtschaftlicher Nutzen und der das Verlangen nach Sicherheit trugen erheblich dazu bei, den wilden Verlauf der Aller in gezähmte Bahnen zu zwingen.
Obwohl es bereits im 18. und 19. Jahrhundert Bestrebungen gab, durch Stauwehre und Durchstiche den Flussverlauf zu den eigenen Gunsten zu lenken, steht dies in keinem Verhältnis zu den Veränderungen, die im 20. Jahrhundert vollzogen worden sind. In nie dagewesener Weise wurden Bodenmassen bewegt, Umgestaltungen des Landschaftsbildes umgesetzt und dabei Eingriffe vorgenommen, die sich kaum wieder rückgängig machen lassen. Vor diesem Hintergrund können Renaturierungsmaßnahmen wohl nur als späte Wiedergutmachung daherkommen - sie können jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, dass die Aller inzwischen in weiten Teilen einem künstlichen Flussbett folgt, das viel von seiner ursprünglich natürlichen und romantischen Erscheinung eingebüßt hat.
H. Altmann
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Quellen:
Chronik der Friedrich Marahrens Nachf. Helmut Thiele KG.
W. Kuchenbecker, Wasserwirtschaft und Wasserversorgung, in: Der Landkreis Celle, 1966.
H. Lahring, Die Stauwiesen im Flotwedel, in: Der Speicher, 1930.
C. Seiler, Die Aller - ein Fluss verändert seinen Lauf.
Wieder einmal ein schöner Beitrag. Vielen Dank!
AntwortenLöschenSehr interessant geschrieben. Ich kann mich noch erinnern, dass mein Vater bei Thiele Maahrens gearbeitet hat und in den 60er Jahren am Bau der Schleuse zwischen Offensen und Oppershausen mitgeholfen hat.
AntwortenLöschenBrot ist lecker
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