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Obwohl ich bereits viele spannende Geschichten gehört und einige davon auch aufgeschrieben habe, hat mich die nachfolgende Begebenheit unglaublich begeistert. Ob es Zufall war, auf ausgerechnet diese Geschichte zu stoßen, kann ich nicht sagen und vielleicht wird auch nicht jeder meine Begeisterung teilen. In diesem Beitrag werde ich versuchen die Geschichte des vergessenen Hofes "Schellenhorst", zwischen Uetze und Bröckel, lebendig werden zu lassen. Es ist eine Geschichte, die es verdient hat!
Beginnen wir aber von Vorne. Kürzlich hatte ich bereits über die ehemalige Oberallertalbahn berichtet. Dementsprechend wollte ich gerne über eine andere verschwundene Bahntrasse berichten - die, welche zwischen Braunschweig und Celle verlief (Mehr dazu: Hier). In einem ersten Schritt versuchte ich mich mit dem Gelände vor Ort vertraut zu machen und startete eine kleine "Exkursion" in Google Earth. An einer Stelle stieß ich dabei auf etwas Ungewöhnliches...
Bild: ungewöhnliche Bodenstruktur an der ehem. Bahnstrecke. Quelle: Google Earth.
Dort wo die Bahnstrecke den Fluss Erse einst überquerte waren auf dem Satellitenbild eindeutig Objekte zu erkennen, die absichtlich dort abgestellt worden sein mussten - ich hielt es für verschrottete Autos. Mein Interesse war sofort geweckt.
Schnell wurde mir klar, dass auch die umliegenden Bäume auffällig in Reihe standen - ein Zeichen dafür, dass es sich hier nicht einfach nur um einen alten Schrottplatz handelte, sondern, dass es sich auch um einen ehemaligen Siedlungsplatz handeln könnte. Es half nichts - ich musste mir diese Sache vor Ort ansehen, um weitere Schlussfolgerungen ableiten zu können. Ich fuhr daher an den besagten Ort. Angekommen kämpfte ich mich zunächst durch meterhohes Gras, Brombeersträucher und Brennnesseln. Zu rechter Hand plätscherte die Erse und zur Linken erstreckten sich ausgedehnte Roggenfelder. Von einem Haus, einem Schrottplatz oder den eingangs beschriebenen Objekten war nichts zu sehen. Als ich bereits kurz davor war aufzugeben und den Rückweg zu meinem Auto anzutreten, erblickte ich plötzlich etwas Seltsames. Inmitten dieser grünen Hölle standen zahlreiche alte Maschinen. Vor mir lagerte eine alte Werkbank, verrostet, leer und verlassen. Wie Wanderdünen hatten sich die Brombeeren über den Maschinenpark geschoben - nur an einigen Stellen schauten alte, rostige Teile hervor.
Nun war spätestens klar, dass hier jemand reichlich Schrott angesammelt hatte. Es gab keine Spuren von einem Haus oder einem Hof - von der Bahnlinie war auch nicht mehr viel zu sehen. Für den Moment bewertete ich die Situation als eher unspektakulär und trat den Rückweg an. Vorbei an zahlreichen Apfelbäumen, die auffällig ordentlich in Reihe gepflanzt worden waren, erreichte ich schließlich mein Auto an der Ersebrücke der Landstraße 387.
Diese Apfelbäume beschäftigten mich aber weiterhin. Weswegen sollte jemand die Bäume derart mitten ins Nirgendwo pflanzen? Uetze war ja noch eine ganze Ecke entfernt. Wer pflückte irgendwo im Nirgendwo Äpfel? Und warum eine Allee aus Apfelbäumen zu einem Schrottplatz?
Fakt - hier musste doch noch mehr dahinterstehen. Daher forschte ich in alten Karten nach - und tatsächlich - was ich fand, versetze mich wirklich in Erstaunen.
Bild: Schellenhorst. Quelle: preußisches Messtischblatt v. 1898.
Eben an der Stelle zwischen Landstraße und Erse war im preußischen Messtischblatt von 1898 tatsächlich ein Hof eingezeichnet. Die Hofstelle, bestehen aus vier Gebäuden war mit "Schellenhorst" benannt.
Bild: Schellenhorst. Quelle: brit. Militärkarte 1945.
Auch in der britischen Militärkarte des War Office von 1945 war der Hof "Schellenhorst" eingezeichnet. Allerdings war zu dieser Zeit bereits die Bahnlinie Celle - Braunschweig gebaut und ebenfalls in der Karte verzeichnet. Mit dem Bau der Bahn war im Jahr 1913 begonnen worden. Fertig gestellt wurde die Strecke am 1. September 1920. Der Hof musste demnach bereits vor dem Bau der Bahnlinie bestanden haben.
Bild: Schellenhorst. Quelle: Kartenlayer 1945 / Google Earth.
Um sicher zu gehen erstellte ich noch ein Kartenlayer in Google Earth. Darauf ist eindeutig erkennbar, dass der Hof "Schellenhorst" zwei Zuwegungen besaß. Eine in Richtung der Landstraße und eine in Richtung Uetze verlaufend. Der Hof lag unmittelbar unterhalb der Ersebrücke der ehemaligen Bahnlinie, direkt an der Erse und etwas abseits der Landstraße. Aus diesem Grund mag der Hof wohl auch derart in Vergessenheit geraten sein, denn der Personenverkehr auf der Bahnstrecke wurde bereits 1971 eingestellt. Wenig später folgte die Einstellung des Güterverkehrs. Durch die Entfernung zur Landstraße blieb der Hof vor den Blicken Vorbeifahrender bewahrt.
Bild: Schellenhorst nördlich von Uetze. Quelle: Google Earth.
Bild: Schellenhorst nördlich von Uetze. Quelle: Flash Earth.
Schön und gut - nun war also klar, dass es einmal einen Hof "Schellenhorst" gegeben hatte, den es heute nicht mehr gibt. Damit waren jedoch eigentlich weniger Fragen beantwortet, als neue entstanden sind. Wer wohnte einst so abgelegen? Zu welcher Zeit wurde dieser Einsiedlerhof erbaut? Wo waren die kartenmäßig belegbaren Gebäude geblieben? Wann wurde der Hof abgerissen?
Normalerweise liefert das Internet Antworten auf alles mögliche. In diesem Fall war jede Suche aber schon von Anbeginn zum Scheitern verurteilt. Es ist wohl klar, dass es schwierig ist Informationen zu etwas zu finden, was es nicht mehr gibt. Ich beschloss daher auf klassische Recherchemethoden umzusteigen und das zu tun, was man eben tat, als es noch keine Onlinesuchen gab - Mitmenschen fragen.
Als erste Anlaufstelle wählte ich den Heimatbund Uetze e.V. - schließlich nahm ich an, dass man dort sicher bescheid wüsste. Ich rechnete fast damit, nicht der erste zu sein, der die Frage nach dem verschwundenen Hof Schellenhorst stellte. Wieder wurde ich überrascht - offenbar wusste man auf Anhieb nichts von Schellenhorst. Aber trotzdem half man gerne - ich erhielt den Kontakt zu Herrn Günther Rohde, der sich laut Auskunft "bestens mit der Geschichte in der Gemarkung Uetze auskennt."
Bereits Herr Rohde konnte meine Vermutung bestätigen. Schellenhorst ist ein wüst gefallener Einsiedlerhof. Der Hof hätte aufgrund von Erbfällen mehrfach den Eigentümer gewechselt und sei zuletzt abgerissen worden. Schließlich verwies mich Herr Rohde an Annelore Pott - die Schwester des letzten Hofeigentümers. Nach einem ausgiebigen Telefonat mit Frau Pott ließ sich die Geschichte von Schellenhorst gut rekonstruieren.
Die Geschichte hinter der Geschichte...
Schellenhorst müsste so ungefähr um 1900 erbaut worden sein. Ob es vor dem Bau der Bahnlinie war, wusste Frau Pott nicht - kartenmäßig ist belegbar, dass der Hof auf jeden Fall vor dem Bau der Bahnstrecke ab 1913 existierte. Es ist somit anzunehmen, dass Schellenhorst ca. um 1850 entstand.
Der Name "Schellenhorst" sei auf "Schellen" und "Horst" zurückzuführen, so Annelore Pott. Ihr Vater hatte ihr erzählt auf jenem Einsiedlerhof habe es die ersten Schellen an den Pferdetrensen gegeben. Diese dienten, damit die Pferde nicht scheuten. Nach einem Gespannführer mit dem Namen "Horst" sei schließlich der Name Schellenhorst entstanden. Es wäre ebenso denkbar, dass der Name Horst die Gemarkung beschreiben sollte. Zumal Horst ja eine gängige Flur- und Ortsbezeichnung ist (Plockhorst, Flackenhorst etc.). Rund um den Hof Schellenhorst liegen 46 Morgen bewirtschafteter Fläche. Das entspricht nach Umrechnung des Hannoverschen Morgens etwa 120.566 Quadratmetern.
Pferde spielten jedenfalls auf dem Hof Schellenhorst immer eine große Rolle. Der Hof bestand einst neben dem Wohnhaus einen Kuhstall und einen Pferdestall sowie eine große Scheune. Annelore Pott erinnert sich es sei ein wunderschöner Hof gewesen mit einem idyllischen Wohnhaus. Es habe keinen Strom gegeben - Licht wurde mit Petroleumlampen gemacht und die Arbeit von Hand verrichtet. Schellenhorst hatte zwei Zuwegungen - eine zur Landstraße und eine in Richtung Bahn / Uetze. Das bestätigt ebenfalls die Karte aus dem Jahr 1945.
Obwohl die Landstraße einst verkehrstechnisch noch relevanter war, als heute - die Umgehungsstraße gab es noch nicht - lag der Hof schon früher ziemlich abseits. So kam es wohl nicht selten vor, dass Bettler und Hausierer den Weg zum Einsiedlerhof fanden. Wenn die Männer auf dem Feld waren, wurden daher alle Türen in Richtung Landstraße versperrt.
Vor allem waren es Hannoveraner (Pferderasse), die auf Schellenhorst zum Einsatz kamen, erinnert sich Annelore Pott. Schon früher wurden die Pferde vielseitig eingesetzt - nicht nur in der Landwirtschaft. Der Urgroßvater (oder Großvater) von Annelore Pott war bei einem Husarenregiment. Durch seine enge Verbindung zur Reiterei und den ansehnlichen Pferden auf dem Hof Schellenhorst durfte er den König von Hannover kutschieren. Es ist zwar nicht weiter bekannt zu welcher Zeit, bzw. welcher Monarch zu jener Zeit über das Königreich Hannover herrschte, aber zumindest kann so die Gründung vom Hof Schellenhorst weiter eingegrenzt werden. Zumal das Königreich Hannover erst im Jahr 1814 (Wiener Kongress) hervorgegangen war, spricht einiges dafür, dass der Hof Schellenhorst zwischen 1800 und 1850 gegründet worden sein könnte.
Macht und politischer Einfluss haben anscheinend noch zu anderer Stelle eine Rolle in Bezug auf den Hof gespielt. Während ein Zweig der Familie in Uetze zum welfischen Adel hielt, war der Zweig auf dem Hof Schellenhorst eher dem preußischen Herrscher zugetan. 1866 kam es zur Annexion des Königreiches Hannover durch Preußen. Der Familienstreit entwickelte sich weiter und endete schließlich darin, dass sich die Familie nachhaltig entzweite.
Da die Straße früher noch stark frequentiert war, wollte Annelore Pott den Hof in ein idyllisch gelegenes Gasthaus umgestalten. Zumal die nahegelegene Gaststätte "Wilhelmshöhe" damals noch nicht in ihrer heutigen Form existierte, sollte Schellenhorst zu einem Gasthaus mit bester Anbindung und in schönster Lage werden. Der Plan leuchtet ein - an der Erse, nahe der Bahnstrecke und gut erreichbar von der nahen Landstraße und dennoch ruhig gelegen. Die Natur durchkreuzte den Plan - das Haus war baufällig.
Schließlich mussten die Gebäude abgerissen werden, was Annelore Pott noch heute sehr bedauert. Die Flächen rund um den ehemaligen Hof wurden verpachtet. Nur die alten Maschinen sind als stumme Zeitzeugen erhalten geblieben.
Was bleibt...
Fast nichts erinnert mehr an die vergangenen Tage auf dem Hof Schellenhorst. Die Gebäude sind aus der Landschaft entschwunden, die Wege von hohem Gras überwachsen und die Äpfel fallen zu Boden ohne dass es jemanden stört. Die angrenzende Bahnlinie ist neu begrünt worden, die Brücke über die Erse wurde abmontiert - nur selten kommen Paddler vorbei, aber auch sie bemerken vom einstigen Hof Schellenhorst so gut wie nichts.
Die Natur erobert das Gelände Stück für Stück zurück und nur mit einem geschärften Blick fallen einem die Spuren aus der Ferne noch auf.
Neben den Stichen zahlloser Bremsen und Mücken, Brennnesseln und Dornen spürt man die Geschichte. Und doch kann man sie sich nicht selber erschließen. Nicht nur der Hof Schellenhorst ist verschwunden - auch die Menschen, die seine Geschichte kennen und erzählen könnten fehlen. Annelore Pott ist die Letzte, die aus früheren Tagen des Hofes berichten kann.
Bild: Letzter kartografischer Hinweis auf Schellenhorst. Quelle: Region Celle Navigator, LGLN.
Bild: Letzter kartografischer Hinweis auf Schellenhorst. Quelle: Region Celle Navigator, LGLN.
Irgendwann werden sich die Leute vielleicht fragen, warum die Feldflur in neueren Karten dort den Namen Schellenhorst trägt. Vielleicht wird sich über einige Generationen die Geschichte überliefern lassen, dass es dort einen alten Hof gegeben hat. Das Meiste Wissen über Schellenhorst wird jedoch verloren sein, zumal niemand danach fragt. Wie sollte man auch nach etwas fragen, was es nicht mehr gibt?
Es sind genau diese Geschichten, die uns lehren sollten immer neugierig zu bleiben. Immer wieder nachzufragen und uns alles von älteren Mitmenschen erzählen zu lassen was nur möglich ist. Früher waren es die Dorfschullehrer oder Pfarrer, die sich mit der Heimatgeschichte beschäftigt haben. Heute haben Heimatvereine vielerorts diese Aufgabe übernommen. Leider erreichen die Informationen oft nicht mehr die jüngeren Generationen. Es bleibt eine Lücke - fast keiner kennt mehr seine eigene Umgebung - dabei sollten wir doch wohl am besten wissen, was vor unserer eigenen Haustür passierte!
Viele Grüße,
Hendrik
Diese Geschichte hat mich beim Lesen genau so gefesselt wie Dich wohl bei der Recherche. Und sie wird nun nicht mehr in Vergessenheit geraten, denn Du hast sie ja aufgeschrieben!
AntwortenLöschenEin toller Beitrag :)
Viele Grüße,
Christian
Moin Moin,
AntwortenLöschenvielen Dank für die tolle Geschichte. Ich habe das Lesen dieser Geschichte sehr genossen.
Mach auf jeden Fall weiter so!
Gruss
Michael
Hallo,
AntwortenLöschenein hochinteressanter Beitrag, ich habe vor Jahren in Burgdorf gewohnt und ca. 2004 die demontierte Bahnlinie per Foto dokumentiert. Von dem Hof habe ich damals bei meinen Begehungen auch nichts gesehen. Was allerdings den Namen betrifft: ich glaube, das hat mit klingelnden "Schellen" genauso wenig zu tun wie mit "Maulschellen". Im Spessart gibt es den Ort Schöllkrippen, dessen Namensteil Schöll sich von "Scheel" herleitet, ein längst vergessenes Wort für Pferd oder Hengst (Schöllkrippen soll sowas wie Pferdetränke oder Pferdefutterplatz bedeuten). Nachdem Pferde ja auf dem Hof eine Rolle spielten, kann es sein, daß "Scheel" als Synonym für Pferd damals noch im Gebrauch war, so wie heute noch "Roß", und zur Namensgebung beitrug.
Grüße aus Aschaffenburg
Robert
Ich habe damals gehört, das einige Filmfreaks Aufnahmen auf dem verlassenen Gehöft machen wollten. Sie wurden vom Besitzer überrascht und vertrieben.
AntwortenLöschenEr hat daraufhin alte Eggen mit den Zinken nach oben am Anfang des Weges eingegraben, so daß jeder der dort reinfahren wollte Platte Reifen hatte.
Hallo Hendrik, gerade bin ich auf diese Geschichte gestoßen, als ich ergooglen wollte, welchen Namen meine Oma früher immer genannt hat. Ganz hinten in meinem Gehirn fand sich plötzlich der Name Schellenhorst. :) Ich kann nur leider nicht mehr rekonstruieren, ob sie womöglich auf diesem Hof gewohnt hat. Ich weiß nur, dass die Kinder (u.a. meine Mutter)damals mehrere Kilometer zur Schule laufen mussten, bei Wind, Wetter und durch tiefen Schnee. Sie wohnten irgendwo außerhalb von Uetze auf einem abgelegenen Hof. Meine Oma nahm oft das Wort Schellenhorst in den Mund, es könnte aber natürlich sein, dass sie sagte: in der Nähe von Schellenhorst. Ich war leider noch zu klein, um nachzufragen bzw. mitzuschreiben... Falls ich noch etwas erfahre, sage ich aber Bescheid. :)
AntwortenLöschenSchönen Gruß
Christina
Hallo Hendrik.
AntwortenLöschenIch bin auf der Suche nach einem historischem Hintergrund für die Wilhelmshöhe in Uetze auf Deine Arbeit hier gestoßen. Wirklich toll gemacht und auch super geschrieben.
Weiter so und vielen Dank für diesen Einblick in die Vergangenheit meiner Heimat.
Lg Steffen
Also wir haben als Kinder oft dort auf dem verlassenen Hof gespielt, die Gebäude standen alle noch, man konnte in das Haus, dort ging eine Treppe hoch, ein Stall grenzte an und es gab eine Scheune, in der noch Wagen standen.
AntwortenLöschenAls dort noch jemand wohnte, lebte u.a. eine Klassenkameradin von mir dort, ich glaube sie hiess Manuela Irmer.