f Heimatforschung im Landkreis Celle

Montag, 28. Oktober 2024

Geländesportschule bei Scheuen

 

Das Gelände am Reiherberg bei Scheuen blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Für wenige Jahre befand sich vor Ort eine Volks- bzw. Geländesportschule. Über diese Einrichtung war bislang kaum etwas bekannt geworden. Aktuelle Archivrecherchen geben Aufschluss über die historischen Hintergründe. 

Bereits in der Kaiserzeit wurde das Areal militärisch als Exerzierplatz genutzt.[1] Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verwendete die Kaiserliche Werft Wilhelmshafen das Gelände als Marineflugplatz. Später zog ein Erholungsheim des Berliner Jugendamtes in die Gebäude ein. Im Jahr 1925 wurde im vorderen Bereich des Reiherbergs ein Landerziehungsheim der Stadt Berlin eingerichtet. Bevor schließlich die Heeresmunitionsanstalt Celle/Scheuen in den Dreißigerjahren auf dem Reiherberg errichtet wurde, war eine Volks- bzw. Geländesportschule in den Gebäuden des ehemaligen Marineflugplatzes untergebracht.

Tatsächlich handelte es sich bei dieser Volks- bzw. Geländesportschule jedoch nicht um einen vermeintlich harmlosen Freizeitort zur körperlichen Ertüchtigung. Wie andere im Reichsgebiet eingerichtete Schulen, diente auch die Sportschule bei Scheuen der Wiederherstellung der nationalen Wehrbereitschaft – dies insbesondere mit Blick auf die Ertüchtigung jüngerer Jahrgänge. Unterstützt durch die Reichsregierung, dienten die Sportschulen dazu, im Geheimen gezielt die Vorgaben des Versailler Vertrags zu unterlaufen. Die Ergebnisse aktueller Archivrecherchen belegen die historischen Zusammenhänge eindrucksvoll. 

Bild: Lage der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Messtischblatt Celle, 1:25.000, 1931. 

Der Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 geschlossen wurden („Versailler Vertrag“) sah erhebliche Einschränkungen für das im Ersten Weltkrieg unterlegene Deutschland vor. Insbesondere die Anzahl militärischer Ausbildungsschulen wurde drastisch reduziert.[2] Darüber hinaus wurde es Unterrichtsanstalten, Hochschulen, Kriegsvereinen, Schützengilden Sport- und Wandervereinen und überhaupt Vereinigungen jeder Art untersagt, sich mit militärischen Dingen zu befassen.[3] 

Verboten war insbesondere die waffentechnische Ausbildung. Eine Verbindung entsprechender Vereinigungen mit dem Kriegs- bzw. Reichswehrministerium sowie anderen militärischen Behörden war ebenfalls verboten. Der Reichswehrminister, Wilhelm Groener, äußerte in einem Schreiben an den Reichskanzler, Heinrich Brüning, zu den Bedingungen des Versailler Vertrags, dass dieser uns „zu einer Wehrverfassung (zwingt), innerhalb der keine Möglichkeit besteht, durch militärische Ausbildung der Masse der männlichen Bevölkerung einen heranzubilden, von dessen Güte und Ausbildungsgrad die Verteidigungsfähigkeit des Reiches wesentlich abhängig ist.“[4]

Bild: Lage der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Archiv Altmann. 

Von Seiten des Reichswehrministeriums bestand vor diesem Hintergrund ein gesteigertes Interesse, mögliche Schlupflöcher in der einschränkenden Gesetzeslage zu suchen. Somit rückte auch die körperliche Ertüchtigung der Jugend in den Fokus. Da nicht nur das Ausbildungswesen, sondern auch die allgemeine Wehrpflicht durch die Vorgaben des Versailler Vertrags kassiert worden waren, musste das restlich verbliebene Berufsheer mit einem einigermaßen ausgebildeten Personenersatz versorgt werden.[5] 

Bereits unter dem Vorgänger Groeners, dem Reichswehrminister Otto Geßler, war ab 1924 die sogenannte Volkssportorganisation geschaffen worden. Diese sollte dazu beitragen, dass im Ernstfall zumindest für den bereits überalterten Grenzschutz ein junger vorgebildeter Ersatz verfügbar war.[6] In jeder Provinz des Reiches wurden Volkssportschulen eingerichtet, deren inhaltliche Ausbildungstätigkeit u.a. in gymnastischen Übungen, Kleinkaliberschießen und Wanderungen bestand. Die Tätigkeiten innerhalb der Volkssportorganisation stellten von Beginn an eine Gradwanderung in Hinblick auf die restriktiven Vorgaben des Versailler Vertrags dar.

Bild: ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: 
NLA Hannover Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207. 

Die praktische Organisation der Volkssportschulen oblag in der Anfangszeit regelmäßig privaten Vereinigungen, die verschiedentliche staatliche Unterstützung erfuhren. Schwierigkeiten ergaben sich dadurch, dass die Vorgaben des Versailler Vertrags ebenfalls eine Verbindung von Militärbehörden und privaten Vereinigungen sanktionierten. Eine offizielle Einflussnahme des Reichswehrministeriums war hiernach eigentlich ausgeschlossen. Aus dessen Sicht ergaben sich zur Mitte der 1920er Jahre jedoch gravierende Nachteile aus der Zurückhaltung der Reichsbehörden. Bemängelt wurde unter anderem, dass der Fokus auf die Hebung der Durchschnittsleistung gelegt werden müsste, anstatt auf Spitzenleistungen in einzelnen Sportarten.[7] Schließlich benötigte man keine Spitzensportler, sondern Nachwuchs, der im Durchschnitt geistig und körperlich den Anforderungen genügte.

Politisch bestanden weitere Bedenken gegenüber der Volkssportorganisation außerhalb des staatlichen Zugriffs. Die vorhandenen privaten Vereinigungen würden die Abschottung gesellschaftlicher Schichten fördern und zu einer Politisierung beitragen. Rechtsgerichtete Vereine „treiben die Ausbildung ihrer Mitglieder vielfach mit einer innerpolitischen Tendenz gegen den Staat, der nichts tue, um die Jugend wehrhaft zu machen; Linksverbände betreiben die Ausbildung ihrer Mitglieder mit der innerpolitischen Tendenz zum „Schutze der Republik“, so Generalmajor von Schleicher in einem Schreiben an die Reichskanzlei.[8] Vor diesem Hintergrund bestand ein gesteigertes Interesse seitens der Reichsregierung, die Vielzahl privater Vereinigungen in einer einheitlichen Organisationsstruktur zu bündeln.

Eine große Herausforderung bestand darin, staatliche Stellen stärker in die vormilitärische Ausbildung einzubeziehen, ohne hierdurch Sanktionen des Versailler Vertrags zu provozieren. Einen möglichen Ansatzpunkt sah das Reichswehrministerium darin, die Auslegung des Versailler Vertrags anzupassen. Die „Wehrhaftmachung“ sollte nicht als „militärische Ausbildung“ im Sinne des Vertragstextes verstanden werden.[9] Bestimmte Übungen, verstießen nach Auffassung des Reichswehrministeriums demnach nicht gegen den Versailler Vertrag, wenn sie lediglich mit militärischen Aufgabengebieten in Verbindung gebracht werden können – entscheidend sei vielmehr ob die Zwecke der Übungen keine anderen als ein rein militärische sind.[10] Auf Grundlage dieser großzügigen Auslegung konnten eine Reihe von Aktivitäten als „sportlich“ anstatt als „militärisch“ eingestuft werden – darunter z.B. Gepäckmärsche, Schanzen, Kleinkaliberschießen u.v.m..

Bild: Übungen in der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: NLA Hannover Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207. 

Das exakte Gründungsdatum der Volkssportschule in Scheuen ließ sich quellenseitig nicht ermitteln. Verschiedene Dokumente geben jedoch darüber Aufschluss, dass in der „Deutschen Volkssportschule Scheuen“ ab 1926 Lehrgänge durchgeführt worden sind.[11] Aus der Scheuener Schulchronik geht hervor, dass die Volkssportschule im März 1927 eröffnet worden sei.[12] Ausweislich einer zeitgenössischen Broschüre handelte es sich um eine Einrichtung des der „Reichsarbeitsgemeinschaft Volkssport“ in Berlin angeschlossenen „Vereins für Volkssport e.V.“.[13] Laut Broschüre stört „keine Politik, kein Parteigezänk ihren Frieden.“[14]

Es scheint jedoch bereits in der Anfangszeit der Volkssportschule Auffälligkeiten gegeben zu haben – in einem Schreiben des Celler Landrats an den Regierungspräsidenten in Lüneburg heißt es, die Volkssportschule in Scheuen würde in größerem Stil Propaganda machen.[15] Nicht abschließend geklärt ist, welche Verbindung zwischen dem „Verein für Volkssport e.V.“, der in Scheuen präsent war und der 1924 gegründeten Volkssportorganisation im Zeitablauf bestanden. Ein direkter Kontext dieser Institutionen liegt jedoch nahe. So gab der zuständige Provinzialvertreter des Verbands der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland seinem Schreiben vom 12.12.1928 an den Regierungspräsidenten in Hannover an, dass die Volkssportschule in Scheuen der „vor etwa 4 Jahren entstandenen Volkssportbewegung“ angehört.[16] Diese Verbindung zur Volkssportorganisation spricht dafür, dass die Volkssportschule Scheuen nicht ausschließlich zivile Ausbildungsziele verfolgte.

Insbesondere das linke Spektrum begegnete den Volkssportschulen mit Skepsis. Die sozialdemokratische Tageszeitung „Volkswille“ in Hannover warnte unter der Überschrift „Eine reaktionäre Volkssportbewegung“ im März 1929 vor der aufstrebenden Bewegung. Obwohl der Verband der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland nicht der Ansicht war, dass „die alljährliche Wiederholung tendenziöser Behauptungen in der Presse dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit, selbst bei leichtgläubigen Lesern zu erhöhen,“ sah man sich dennoch dazu verpflichtet die Aussagen aus der Presse ins rechte Licht zu rücken.[17] 

In seinem Schreiben an die Regierung in Hannover stellte der Provinzialvertreter des Verbands der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland klar, dass weder vom Reichswehrministerium noch von sonstigen staatlichen Kassen Mittel zugeflossen seien. Ebenso wurde die verstärkte Beteiligung von vaterländischen Verbänden an den Lehrgängen der Sportschule Scheuen und auch die Fokussierung von militärischen Ausbildungsfächern, wie insbesondere dem Kleinkaliberschießen, vehement abgestritten.[18]

Bild: Auszug aus dem Jahresbericht 1931 der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: NLA Hannover Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207. 

Nach Außen gab sich die Volkssportbewegung zunächst unauffällig – ihre Ausrichtung sei auf die „zielbewusste Körperschulung“ aller gesellschaftlicher Schichten fokussiert, heißt es in zeitgenössischen Broschüren Ende der 1920er Jahre.[19] Politisch sei die Volkssportbewegung vollkommen neutral – hinsichtlich Konfessionen und Stand gäbe es keine Unterschiede. Die positive Außendarstellung überrascht nicht. In den politisch turbulenten Zeiten der Weimarer Republik war es sicherlich noch zu früh, die tatsächlichen Absichten hinter der Volkssportbewegung offen zu kommunizieren. Die Organisation befand sich zudem noch im Aufbau. Um diesen nicht zu gefährden und gleichzeitig eine möglichst breite gesellschaftliche Basis zu schaffen, war eine auf positive Außendarstellung natürlich unentbehrlich.

Organisatorisch unterstand die Volkssportschule Scheuen in ihrer Anfangszeit der „Reichsarbeitsgemeinschaft Volkssport“, die im gesamten Reichsgebiet entsprechende Einrichtungen unterhielt. Der Reichsarbeitsgemeinschaft unterstanden weitere Regionalverbände. In Niedersachen war der „Verband der Volkssportvereine Nordwestdeutschland“ für die Sportschulen Detmold, Wilhelmshaven, Göttingen, Kettwig und Scheuen zuständig.[20] Direkt unterstand die Volkssportschule dem Provinzialvertreter des Verbands in Hannover, Hans Jahns.

Ihre tiefgestaffelte Organisationsstruktur nutzte die Volkssportorganisation, um ihren Einfluss auf Kommunal-, Landes- und Reichsebene stetig auszubauen. Kurioserweise unternahmen die angeschlossenen Verbände große Anstrengungen, um politische Anerkennung sowie die erforderlichen Geldmittel einzuwerben, obwohl die Unterstützung der Bewegung von Seiten der Regierung nie in Frage stand. Ein Umstand, der möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass eine offizielle Unterstützung von Seiten des Reichs vor dem Hintergrund des Versailler Vertrags problematisch war. Trotz einer gewissen Anlaufzeit gelang es den Vertretern der Volkssportbewegung bis Anfang der 1930er Jahre eine straffe Wehrsportorganisation aufzubauen. Dies bestätigt sich ebenfalls mit Blick auf den laufenden Betrieb der örtlichen Volkssportschule in Scheuen. 

Bis Ende der 1920er Jahre hatte sich die Institution der Geländesportschule in Scheuen fest etabliert. Im Jahr 1929 erwog der Regierungspräsident von Hannover staatliche Jugendpflegekurse des Regierungsbezirks Hannover in die Obhut der Volkssportschule Scheuen zu legen.[21] Der Verband der Volkssportvereine Nordwestdeutschland betrieb zu dieser Zeit intensive Lobbyarbeit, um weitere Unterstützung von Seiten der Landesregierung zu erhalten. Diese Bestrebungen zahlten sich aus – ab 1930 nahmen die Regierungen von Lüneburg und Hannover ihre Zusammenarbeit mit der Sportschule Scheuen auf.[22]

Der Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen für das Jahr 1929 belegt, dass der Sportschule von behördlicher Seite stetig wachsende Aufmerksamkeit zuteil wurde.[23] Darin führte der Sportschulleiter Böwing unter anderem aus, es sei „also ein erfreuliches Bild, dass diese Zusammenarbeit mit der staatlich geförderten Jugendpflege, die immer enger zu werden verspricht, bietet.“ Im August 1930 bestätigte der Regierungspräsident nochmals die Zufriedenheit in Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen der staatlich geförderten Jugendpflege und der Volkssportschule Scheuen.[24]

Der überwiegende Anteil der Lehrgangsteilnehmer bestand aus Arbeitern und Angestellten mit 42,5 % – gefolgt von Beamten mit 27,5 %. An den 14-tägigen Lehrgängen nahmen im Jahr 1929 insgesamt 227 Personen teil. Die 2-tägigen Kurzlegränge wurden von insgesamt 545 Personen besucht. Diese Zahlen sollten sich in den kommenden Jahren noch stark steigern. Inhaltlich standen Betätigungen, wie Leichtathletik, volkstümliche Übungen und Spiele auf der Tagesordnung.[25] Bis 1931 etablierten sich Sonderkurse im Rettungsschwimmen, Jiu-Jitsu-Lehrgänge und Kurse im Segelfliegen als feste Bestandteile des Tätigkeitsangebots der Volkssportschule Scheuen.[26]

Im Jahr 1931 schlossen sich mitgliederstarke Jugend- und Sportverbände zur sogenannten „Geländesport-Verbände-Arbeitsgemeinschaft“ zusammen (kurz: G.V.A.).[27] Nach eigener Darstellung war diese Organisation bestrebt, möglichst alle wehrwilligen Verbände heranzuziehen[28] – ihre Ausrichtung lag ganz klar auf einer wehrsportlichen Agenda. Einheitliche Richtlinien, die im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden erfolgten, legten den Fokus des Geländesports insbesondere auf Leibesübungen, Ordnungsübungen, Sinnesschärfung, Kartenkunde, Tarnen, Spähen und Streifen, Geländespiele, Lager und technische Fähigkeiten.[29] Neben der einheitlichen Ausrichtung der angeschlossenen Verbände setzte sich die G.V.A. auch für eine gesicherte Finanzierung der Volkssportschulen ein. So wies der Generalleutnant aD Severin als Vertreter der Interessen der deutschen Volkssportschulen in einem Schreiben an den Reichsminister des Inneren im Juni 1932 darauf hin, dass die Gewährung finanzieller Mittel durch das Reich unabdingbar seien, falls man einer Schließung der Volkssportschulen vorbeugen wollte.[30]

Mit der zunehmenden Selbstorganisation der Volkssportverbände wuchs schließlich auch der politische Druck auf die Reichsregierung die aufstrebende Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken. Am 13. September 1932 erging vor diesem Hintergrund der Erlass des Reichspräsidenten über die körperliche Ertüchtigung der Jugend. Um die bestehenden Volkssportvereinigungen zur gemeinsamen und einheitlichen Arbeit zusammenzufassen, berief der Reichspräsident mit diesem Erlass das sogenannte Reichskuratorium für Jugendförderung. Als geschäftsführender Präsident des Kuratoriums wurde bezeichnenderweise der General der Infanterie a.D. Edwin von Stülpnagel bestellt.[31] 

Die enge Verzahnung zum Militär erfolgte sicherlich nicht zufällig. Erst einen Tag zuvor hatte desbezüglich eine Ministerbesprechung zwischen dem Reichsminister des Innern sowie seinem Amtskollegen aus dem Reichswehrministerium stattgefunden. Insbesondere für Satzungsänderungen und etwaige personelle Wechsel in der Stelle des geschäftsführenden Präsidenten verpflichtete sich der Reichsminister des Innern zunächst die Zustimmung des Reichswehrministers einzuholen.[32] Spätestens ab diesem Zeitpunkt war eine direkte Involvierung der Reichsregierung in die Volkssportorganisation offensichtlich – diese dürfte nicht zuletzt im militärischen Interesse einer Wiederaufrüstung begründet gewesen sein.

Dies wird auch in Hinblick auf die Durchführung der Lehrgänge in der Volkssportschule Scheuen deutlich. In einer Ausschreibung des sogenannten Akademischen Wissenschaftlichen Arbeitsamts („AWA“) vom 12. Juli 1932 wird das AWA-Geländesportlager Herbst 1932 beworben – darunter ebenfalls ein Lehrgang der Gruppe I in Scheuen.[33] Die Tarnbezeichnung „Akademisches Wissenschaftliches Arbeitsamt“ sollte vom wehrsportlichen Charakter der Institution ablenken. Gegründet hatte sie der Ingenieur und Soldat Otto Schwab im Jahr 1930. 

Schwab, der später zunächst zum ersten Führer der Deutschen Burschenschaft gewählt wurde, galt als Experte für Wehrwissenschaften und stieg im Zweiten Weltkrieg in den Rang als SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS auf. Seit 1928 organisierte Schwab die paramilitärische Ausbildung von Studenten. In seiner 1933 erschienenen Schrift „Die totale Wehrhaftmachung“ schwadronierte Schwab nicht nur vom Sinn der deutschen Wehrhaftmachung und der Organisation des zivilen Wehrdienstes – er machte ebenso keinen Hehl daraus, dass er für Deutschland die Regierungsform einer Diktatur befürwortete und hierfür ein geeigneter Führer erstehen solle.[34] In den Geländesportschulen ließ Schwab unter dem Decknamen der AWA sodann wehrsportliche Grundausbildungen und hierauf aufbauende Führerausbildungen durchführen.

Bild: Postkartenansicht - Teilnehmer des AWA-Herbst-Lehrgangs im Jahr 1932 in der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Archiv Altmann. 

Kürzlich konnte bei einer Auktion eine historische Postkarte ersteigert werden, die eben jene Entwicklungen in der Geländesportschule Scheuen belegt. Die Postkarte zeigt Teilnehmer aus der Stube 12 des AWA-Herbst-Lehrgangs der Gruppe I im November 1932 in der Geländesportschule Scheuen. Die Männer auf dem Gruppenbild sind von Kopf bis Fuß wie Soldaten eingekleidet. Schiffchen, Feldbluse, Koppel, Hose sowie Gamaschen und schwere Stiefel – einigen der Männer hängen Feldstecher an Lederriemen um den Hals. In der Mitte der Gruppe sitzt ein Deutscher Schäferhund. 

Es liegt nahe, dass hier keine zivilen Turnübungen absolviert werden sollten, sondern dass die Betätigung vielmehr aus paramilitärischen Wehrsportübungen bestanden haben dürfte. Die Volkssportschule Scheuen hatte sich in dieser Zeit zu einem Zentrum für wehrsportliche Aktivitäten entwickelt. Gegen Ende des Jahres 1932 war sie eine von 16 eingerichteten Geländesportschulen, die auf höchster Ebene dem Reichskuratorium für Jugendertüchtigung unterstanden.

Bild: Postkartenansicht - Teilnehmer des AWA-Herbst-Lehrgangs im Jahr 1932 in der ehem. Geländesportschule Scheuen (Rückseite). Quelle: Archiv Altmann. 

Am 6. März 1933 verstarb Edwin von Stülpnagel. Sein Nachfolger als Präsident des Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung wurde der Major a.D. Georg von Neufville. Das Reichskuratorium wurde fortan dem Reichsarbeitsministerium unterstellt.[35] Für die Durchführung des Geländesports hatte dies zunächst keine unmittelbaren Folgen – weitaus gravierender waren dagegen die Auswirkungen die aus der nationalsozialistischen Machtübernahme folgten.

Nachdem der Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, übernahm dieser eine Koalitionsregierung bestehend aus NSDAP, DNVP und Stahlhelm. Für Anfragen und Vorschläge hinsichtlich der Organisation des Wehrsports bzw. der Jugendertüchtigung stand der neue Reichskanzler persönlich zunächst nicht zur Verfügung – aufgrund seiner „überaus starken Belastung mit Dienstgeschäften“. Anfragen wurden daher regelmäßig nur an die zuständigen Ministerien delegiert. Vorschläge zur Reorganisation der nationalen Jugendarbeit kamen seinerzeit vorwiegend von Seiten des Reichswehrministeriums. Insbesondere die Einrichtung eines neuen Reichsjugendministeriums wurde darin angeregt.[36] Ein solches wurde schließlich ab Mai 1934 in Form des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung eingeführt.

Für die Neuausrichtung der Jugendarbeit sah die nationalsozialistische Führung gleichgeschaltete Bahnen vor. Die gesamten Jugendorganisationen im Reichsgebiet waren Mitte des Jahres 1933 unter die einheitliche Führung der Jugend- und Nachwuchsorganisation „Hitlerjugend“ der NSDAP gestellt worden. Die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend (HJ) wurde für entsprechende Altersklassen ab dem Jahr 1936 verpflichtend.

Der Übergang von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur manifestierte sich auch in der Sportschule in Scheuen. Eine Postkarte aus dem Jahr 1934 zeigt bereits wehende Hakenkreuzflaggen. Auf der Stirnseite des ehemaligen Flugzeughangars wurde das große Schild des „Verein für Volkssport e.V.“ durch ein neues Schild mit Reichsadler und Hakenkreuz ersetzt. Auf diesem sowie auf der Bildunterschrift der Postkarte ist zu lesen „SA Sportschule“ – ein unmissverständlicher Beleg dafür, dass die Volkssportschule in der Gleichschaltung der Sportverbände unter der NS-Führung aufgegangen war.

Bild: Postkartenansicht der ehem. Geländesportschule Scheuen (1934). Quelle: Archiv Altmann. 

Wie lange die Sportschule in der NS-Zeit noch weiter betrieben worden ist, ließ sich anhand von Quellennachweisen bislang nicht eindeutig nachvollziehen. Auf dem Gelände am Reiherberg nördlich von Scheuen entstand ab dem Jahr 1934 die Heeresmunitionsanstalt. Deren Gebäude wurden in zeitgenössischen Karten aus Geheimhaltungsgründen nicht mehr verzeichnet. 

Der Abgleich mit historischen Luftbildern und später erschienenen Kartenwerken belegt aber, dass dort wo sich die Sportschule befunden hatte, später Produktions- und Lagergebäude der Heeresmunitionsanstalt errichtet worden sind. Es liegt somit nahe, dass die Sportschule bei Errichtung der Heeresmunitionsanstalt vermutlich aufgelöst worden ist.

Bild: Relikte der späteren Geländenutzung durch die Bundeswehr. Quelle: Archiv Altmann. 

Von der einstigen Sportschule ist heute im Gelände ebenso wenig zu erkennen, wie von den später dort errichteten Fertigungs- und Lagergebäuden der Munitionsanstalt. Die Quellenfunde belegen jedoch, dass die ehemalige Volkssportschule bei Scheuen bereits Mitte der 1920er Jahre eine von wenigen Einrichtungen ihrer Art im Reichgebiet war, in denen wehrsportliche Aktivitäten durchgeführt worden sind. Diese erfolgten unter dem Deckmantel des Volkssports, um so gezielt die Vorgaben des Versailler Vertrags zu unterlaufen. Die staatliche Einflussnahme wurde aus Sorge vor Sanktionen weitestgehend kaschiert.

Vermutlich trug nicht zuletzt der Umstand, dass tatsächlich keine Reaktionen der Siegermächte auf die Etablierung der Volkssportorganisation folgten, dazu bei, den staatlichen Einfluss auf die zunehmend vereinheitlichte Organisationsstruktur des Wehrsports zu verstärken. Hierbei wurde jedoch verkannt, dass es vorwiegend demokratiefeindliche und rechtsgerichtete Vereinigungen waren, die dem Wehrsport aktiv beiwohnten und diesen unterstützten.

Bild: von den Gebäuden der ehem. Geländesportschule ist vor Ort nichts mehr zu erkennen. Quelle: Archiv Altmann. 

Die wehrsportlichen Aktivitäten der Volkssportschulen reichten für sich betrachtet nicht aus, um Personalersatz in Armeestärke auszubilden. Die Bedeutung der Schulen dürfte daher vor allem in der ideologischen Prägung der Teilnehmer zu sehen sein. Die Lager der Volkssportschulen waren zudem eine Art Testlauf, den der NS-Staat bereitwillig im Zuge der planmäßigen Gleichschaltung der Volksgemeinschaft antizipierte. 

Ihrer Bestimmung, den Wehrersatz für eine vermeintliche Bedrohung des Staates von Außen zu sichern, wurden die Gelände- bzw. Volkssportschulen nicht gerecht. Dies ist nicht zuletzt darauf zurück zu führen, dass die äußeren Bedrohungen damals weniger ins Gewicht fielen, als die antidemokratischen inneren Bedrohungen.

Hendrik Altmann


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[1] Schimmelpfeng, Geschichte des 2. Hannoverschen Infanterie-Regiments Nr. 77, S. 100.
[2] Art. 176, Friedensvertrag von Versailles.
[3] Art. 177, Friedensvertrag von Versailles.
[4] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[5] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[6] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[7] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[8] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[9] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[10] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[11] Jahresbericht 1932 der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[12] Aus der Schulchronik von Scheuen von Lehrer Rahls; Auszüge aus der Schulchronik 1902 – 1927, Kreisarchiv Celle.
[13] Broschüre der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[14] Broschüre der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[15] Schreiben des Celler Landrats an den Regierungspräsidenten zu Lüneburg vom 02.05.1927, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[16] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an den Regierungspräsidenten in Hannover vom 12.12.1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[17] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an die Regierung in Hannover vom 04.04.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[18] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an den Regierungspräsidenten in Hannover vom 12.12.1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[19] Broschüre „Deutscher Volkssport“, 1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[20] Broschüre „Deutscher Volkssport“, 1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[21] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 18.01.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[22] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 24.10.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[23] Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen 1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[24] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 30.08.1930, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[25] Übersicht der Lehrgänge des Jahres 1930, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[26] Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen 1931, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[27] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[28] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[29] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[30] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[31] Erlass des Reichspräsidenten über die körperliche Ertüchtigung der Jugend vom 13.09.1932, R 43 II / 519.
[32] Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 12.09.1932, R 43 II / 519.
[33] Ausschreibung AWA vom 12.06.1932, R 1501/125676.
[34] Schwab, Die totale Wehrhaftmachung, R 1501/125674.
[35] Schreiben des Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung an den Reichsminister des Innern vom 09.05.1933, R 1501/125674.
[36] Schreiben Dr. Kayser, Reichswehrministerium an Staatssekretär Lammers, Reichkanzlei vom 28.03.1933, R 43II/519.


Donnerstag, 18. Juli 2024

Von Norden rollt ein Donner – Rezension


Als seichte Lektüre kann der zweite Roman von Markus ThielemannVon Norden rollt ein Donner“ sicher nicht bezeichnet werden. Bildgewaltig beschreibt der junge Autor die Heidelandschaft, die seinem neusten Werk eine nur scheinbar harmonische Kulisse bietet. 

Angesiedelt ist die Handlung des Buches zwischen Unterlüß, Faßberg, Lutterloh und Hermannsburg. Anhand der im Buch beschriebenen Nähe zum Schießplatz der Firma Rheinmetall, den alten Kieselgurgruben und Mauerresten, die sehr sicher zum ehemaligen Tannenberglager bei Altensothrieth gehören, lässt sich der Handlungsort unmittelbar auf die Südheide eingrenzen.

Seinen Protagonisten, den 19-Jährigen Heideschäfer Jannes Kohlmeyer, lässt der Autor symbolkräftig mit der Herde und den Hütehunden durch die traditionsreiche Gegend ziehen. Das stimmige Narrativ ist aufgebaut, um sogleich zerstört zu werden. Auf dem Hof, den Jannes mit seinem Großvater, seiner Mutter und seinem Stiefvater bewirtschaftet, herrschen familiäre Spannungen. Sie rühren aus früheren Zeiten – Ereignisse der Gegenwart führen schließlich zur Zerreißprobe: der Wolf ist zurück.

Es wäre jedoch zu platt, den Umfang der Erzählung auf die Bedrohung durch das Raubtier zu reduzieren. Die Vergangenheit sucht Jannes heim. Er hinterfragt, erhält jedoch selten zufriedenstellende Antworten – weder von seiner dementen Großmutter, noch von seinem Großvater, der meist nur über seine ganz eigene Auffassung "von früher" berichtet. Ein Riss in der Geschichte, der unüberbrückbar erscheint. In mehreren Spannungsbögen steigert sich die Handlung – phasenweise treten das Raubtier und düstere Schatten aus alten Zeiten ans Licht.

Das Buch überzeugt durch authentische Beschreibungen alltäglicher Situationen. Sprachfertig und stimmig werden die klassisch wortkargen Dialoge auf dem Heidehof treffsicher auf den Punkt gebracht. Bewusste Lücken in den Spannungsphasen stacheln die eigene Phantasie an. Die traditionell romantisierte Wahrnehmung der Heimat wird gekonnt konterkariert. Abseits der Heidelandschaft, wie sie Touristen auf ihren Kutschfahrten erleben, zeigt der Autor das gesamte Spektrum auf. 

Thielemann holt seine Leser ab, konfrontiert sie und erspart es ihnen nicht, sich eigenständig Gedanken zu machen. Insgesamt ein sehr gelungenes Werk.

H. Altmann



Dienstag, 7. Mai 2024

Lager Krümme - neuer Gedenkort bei Wesendorf angestrebt

 

Zuletzt wurde der Straßenabzweig "an der Krümme" im Bereich der Bundesstraße 4 bei Wesendorf/Wagenhoff vor allem wegen des neu errichteten Kreisverkehrs des Öfteren in der Presse genannt. Bis April 1945 befand sich in unmittelbarer Nähe das sogenannte Lager Krümme. Kürzlich wurden im Wesendorfer Gemeinderat Vorschläge für einen neuen Gedenkort diskutiert. 

Vor Ort erinnert fast nichts mehr an die Infrastruktur des ehemaligen Gemeinschaftslagers Krümme. Es handelte sich hierbei um ein bewachtes Barackenlager, in dem Häftlinge der Zuchthäuser Wolfenbüttel und Celle untergebracht waren. 

Die Zustände im Lager Krümme waren entsetzlich - dies ist quellenseitig belegt. Zu schwerster körperlicher Arbeit auf den Baustellen des nahegelegenen Fliegerhorstes verpflichtet, litten die Häftlinge unter unvorstellbaren Bedingungen. Sie waren der rauen Witterung, mangelhafter Ernährung sowie der willkürlichen Behandlung durch die Wachmannschaften ausgesetzt. 

Es handelte sich überwiegend um politische Zuchthausgefangene. Vergehen, wie unter anderem das Lesen feindlicher Propaganda oder das Hören feindlicher Radiosender, brachten den Gefangenen jahrelange Zuchthausstrafen ein. Zahlreiche von ihnen starben in den Jahren 1944/1945. Nicht selten finden sich in den Sterbeunterlagen Hinweise, dass junge Männer an "Herzschwäche" oder "allgemeiner Körperschwäche" verstorben seien. 

Bild: Auszug Liste Celler Zuchthausgefangener. Quelle: Arolsen Archives, Listenmaterial Gruppe PP, Signatur 8182800. 

In den letzten Kriegswochen verschlimmerten sich die Zustände im Lager Krümme zunehmend. Evakuierungstransporte aus anderen Haftstätten trugen maßgeblich dazu bei, dass die ohnehin mangelhafte Versorgung stetig desaströser wurde. Berichte des zuständigen Arztes im Wolfenbüttler Zuchthaus schildern Grauenvolles. 

Zur Rechenschaft gezogen wurden weder die Bewacher unmittelbar vor Ort, noch diejenigen Führungspersonen, die im Bewusstsein der schrecklichen Zustände stetig weitere Transporte in das überfüllte Lager überstellten. Auch die involvierten Baufirmen, die sich damals die Arbeitskraft der Häftlinge zunutze machten, blieben unbehelligt. 

Bild: Auszug einer Rechnung der Fa. Thiele Marahrens, in der das Unternehmen über geleistete Arbeitsstunden der eingesetzten Häftlinge gegenüber der Oberbauleitung abrechnete. Quelle: Bundesarchiv, R 50/I, 687, 51. 

Vom einstigen Lager Krümme und den alten Baustellen sind nur noch bei genauem Hinsehen vereinzelte Spuren zu erkennen. Das Lager und seine Geschichte gerieten in Vergessenheit. Im Zuge der aktuellen Recherchen zum Buch "Der Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen" konnten die historischen Zusammenhänge erstmals umfassend aufgearbeitet werden. 

Bild: Relikte der ehemaligen Baustelle im Bereich der alten Rollbahn. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Wie zuerst die Aller-Zeitung berichtete, hat der Wesendorfer Gemeinderat kürzlich einstimmig beschlossen, dass ein Gedenkort für die Opfer des Lagers Krümme umgesetzt werden soll. Details zu der Angelegenheit sind der zugrundeliegenden Beschlussvorlage zum Vorschlag zur Einrichtung einer Gedenkstätte an das "Lager Krümme" zu entnehmen. 

Zunächst müsste ein geeignetes Grundstück, mit Bezug zu den historischen Ereignissen, gefunden werden. In diesem Zusammenhang wurde sich darauf verständigt, die Sache entsprechend der Beschlussvorlage weiter zu verfolgen. Abstimmungen mit der Gemeinde Wagenhoff und der Samtgemeinde Wesendorf sollen folgen. 

Aus der Beschlussvorlage geht hervor, dass das Vorhaben verwaltungsseitig unterstützt wird. 

Bild: Buchcover. Quelle: H. Altmann. 


H. Altmann


Mittwoch, 17. April 2024

Hakenkreuz-Graffitis im Neustädter Holz aufgetaucht


Es waren schreckliche Szenen, die sich am 8. April 1945 und den Folgetagen im westlichen Celler Stadtgebiet zugetragen haben. Die Ereignisse des Luftangriffs auf den Celler Güterbahnhof und die anschließenden Hetzjagden auf KZ-Häftlinge wurden bereits mehrfach untersucht.[1] Ausgerechnet an einem einstigen Tatort sind Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis aufgetaucht.

Das Neustädter Holz bei Celle wirkt wie ein gewöhnliches Waldgebiet. Nichts deutet vor Ort auf jene Ereignisse hin, die später euphemistisch als „Hasenjagd“ betitelt wurden. Es handelte sich um schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in der Endphase des Zweiten Weltkriegs in unmittelbarer Stadtnähe verübt und nie abschließend aufgeklärt worden sind.

Der wissenschaftliche Forschungsstand zu den Ereignissen ist in der Ausarbeitung „Celle April 1945 revisited“ von Bernhard Strebel umfassend dokumentiert worden.[2] Die wesentlichen Abläufe des 8. April 1945 lassen sich wie folgt zusammenfassen: in den frühen Abendstunden jenes Tages näherten sich mehrere Bomberstaffeln der 9. US Air Force der Stadt Celle. Zuvor waren bereits Luftangriffe auf Nienhagen erfolgt. Bei der Bombardierung des Güterbahnhofs wurde ein Transportzug mit KZ-Häftlingen getroffen, die aus den Außenlagern Drütte und Salzgitter-Bad des KZ Neuengamme sowie aus dem Außenlager Holzen des KZ Buchenwald stammten. 

Auf KZ-Häftlinge, die diesem Inferno entfliehen konnten, machten die Wachmannschaften des Transports sowie in Celle stationierte Einheiten der Waffen-SS, der Wehrmacht sowie Schutzpolizisten, Zivilisten und Einzelaussagen zufolge auch Angehörige des Volkssturms sowie der Hitlerjugend Jagd. Es kam zu massiven Ausschreitungen und Misshandlungen – bis hin zu Erschießungen. Lückenlos aufgeklärt wurden die Geschehnisse – unter anderem aufgrund der stark fragmentierten Quellenlage – bis heute nicht.

Bild: Three Martin B-26 Marauders Aim Fresh Blows At The Nienhagen, Germany Oil Refinery Obscured By Thick Smoke From Previous Hits By 9Th Bombardment Division. Quelle: www.Fol3.com, NARA Reference: 342-FH-3A22118-57133AC, published with permission of Fold3.com

Insbesondere eine Massenerschießung – verübt durch Celler Schutzpolizisten – wirft bis heute Fragen auf. Aus den Ermittlungsakten des sogenannten „Celle Massacre Trial“, den die britische Kontroll-Kommission zur Aufarbeitung der NS-Verbrechen nach Kriegsende anstrengte, geht hervor, dass sich das Ereignis in einem als „Mulde“ bezeichneten Ort im Neustädter Holz[3], zugetragen haben soll. Es handelt sich hierbei um denselben Ort, in dessen unmittelbarer Nähe heute Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil-Hitler“-Graffitis zu finden sind. Auf der Suche nach möglichen Hintergründen ist es zunächst erforderlich, die historischen Abläufe näher zu betrachten und hierbei auch die Ortsbezeichnung „Mulde“ zu lokalisieren.

Handfeste Hinweise liefern diesbezüglich die britischen Ermittlungen im Zuge des „Celle Massacre Trial“. Ins Rollen gebracht wurden diese durch eine freiwillige Aussage des deutschen Kriegsgefangenen Eberhard Streland, der sich als Angehöriger der Nebeltruppe im April 1945 zu einem Lehrgang in Celle befunden hatte.[4] Streland berichtete über die Erschießung von KZ-Gefangenen im Celler Wehrkreis, die sich in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1945 im Zuge einer Durchkämmung des Neustädter Holzes ereignet hatte. 

Die anschließenden Ermittlungen konzentrierten sich vornehmlich nicht auf die Befehlsgeber, sondern vorrangig auf die unmittelbaren Täter.[5] Einen Schwerpunkt bildeten hierbei unter anderem die Aussagen der Celler Polizisten Jakob Decker, Otto Schwandt, Albert Sievert und Helmut Ahlborn. Deren Aussagen entstanden vor dem Hintergrund jeweils unterschiedlichen Verteidigungsstrategien im Gerichtsverfahren. Dennoch enthalten die Aussagen auch überschneidende Informationen, die für eine Lokalisierung der Tatorte herangezogen werden können.

Quelle: Plan der Stadt Celle, 1935. 

In wesentlichen Punkten übereinstimmend beschrieben die Beschuldigten das damalige Szenario. Nach dem schweren Luftangriff am frühen Abend des 8. April 1945 wurde die Celler Polizei alarmiert – auf dem Weg zum Einsatzgebiet erhielten der spätere Einsatzleiter und sein Vertreter Sievert im Gebäude der Kreisleitung der NSDAP in der Trift 20 konkretere Instruktionen.[6] Ihnen sei insbesondere mitgeteilt worden, dass es durch das Entweichen der KZ-Häftlinge zu Plünderungen gekommen sei – die Flüchtigen hätten sich zudem Waffen beschafft.[7] Der Einsatz zur Befreiung des Bereichs sei daher mit allen nötigen Mitteln zu bewerkstelligen – von der Schusswaffe sollte rücksichtsloser Gebrauch gemacht werden.[8] 

Dass es zu nennenswerten Gefechten zwischen KZ-Häftlingen und den eingesetzten deutschen Einheiten kam, ist zweifelhaft. Zwar berichtete der kommandierende Generalmajor Paul Tzschöckell später ebenfalls von Kampfhandlungen, bei denen sogar ein Panzerfahrzeug der Heeresgasschutzschule eingesetzt worden sein soll.[9] Allerdings dürfte es sich bei der grundsätzlichen Aussage, es habe eine angebliche Gefechtssituation vorgelegen, vor allem um eine Schutzbehauptung gehandelt haben. Diese sollte letztlich dazu dienen die massiven Ausschreitungen gegen die KZ-Häftlinge nachträglich zu rechtfertigen.[10]

Zusammen mit Einheiten der Wehrmacht sowie der SS begannen die Polizisten das Neustädter Holz in Höhe des Waldwegs nach entwichenen Häftlingen zu durchkämmen. Den Aussagen der beteiligten Polizeibeamten zufolge kam es im Zuge dieser Maßnahme dazu, dass die SS am Sammelpunkt „Unter den Eichen“ mehrere Häftlinge an die Celler Polizisten übergab. Otto Schwandt gab im Rahmen späterer Ermittlungen an, dass es sich hierbei um eine Gruppe von ca. 25 bis 30 KZ-Häftlingen gehandelt habe.[11] Helmut Ahlborn, der angab an diesem Abend vom Sammelpunkt „Unter den Eichen“ zu mehreren Einsätzen abgerückt und wieder dorthin zurückgekehrt zu sein, beschrieb, dass ein SS-Mann erwähnt habe, er hätte die Häftlinge an Ort und Stelle liegen gelassen – es hätte sich um Plünderer gehandelt.[12]

In den Darstellungen der Beteiligten taucht immer wieder die Aussage auf, dass es sich bei den später erschossenen Häftlingen um Plünderer gehandelt habe. Zutreffend ist, dass offenbar einige KZ-Häftlinge versuchten sich in Häusern der Celler Bevölkerung mit Zivilkleidung und Nahrungsmitteln zu versorgen. Es trifft ebenfalls zu, dass für Diebstahlsdelikte während ausgegebenen Luftalarms schwere Strafen drohten. Jedoch wird die Behauptung, dass alle später erschossenen KZ-Häftlinge Plünderer gewesen seien, bereits dadurch relativiert, dass die Beschuldigten später zugaben diese Information selber nur durch mündliche Berichte erhalten zu haben. In keinem einzigen Fall wurden die vermeintlichen Plünderer bei der vermeintlichen Tatbegehung beobachtet oder dabei gestellt. Selbst im Falle einer eindeutigen Beweislage wäre eine standrechtliche Erschießung unverhältnismäßig gewesen. Vermutlich beriefen sich die Beschuldigten auch meistens deswegen darauf, dass sie die Befehle von vorgesetzten Stellen erhalten hätten, die hierfür die Verantwortung zu tragen hätten.

Bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sich die Einheiten der Polizei sowie der SS mit mehreren KZ-Häftlingen am Sammelpunkt „Unter den Eichen“ einfanden, waren aussagegemäß jedenfalls noch keine Erschießungen durch die Celler Polizisten durchgeführt worden. Am Sammelpunkt angekommen erhielten diese jedoch – angeblich von einem Soldaten der SS – den Befehl eine Gruppe von 30 – 40 KZ-Häftlingen zu übernehmen und diese zu erschießen.[13] Auch der Polizist Albert Sievert sagte später aus, dass sein Kollege, Otto Schwandt, eine entsprechende Order von einem SS-Hauptsturmführer erhalten habe.[14] Den Aussagen nach habe ein SS-Hauptsturmführer dem zuständigen Polizeibeamten Schwandt mitgeteilt, dass die betreffenden KZ-Häftlinge Plünderer seien und Waffen bei sich getragen hätten. Daher habe der General befohlen, dass sie zu erschießen seien.[15] 

Gemeint sein kann hierbei eigentlich nur der Generalmajor und Celler Stadtkommandant Paul Tzschöckell.[16] Laut eigener Aussage von Schwandt habe jener SS-Hauptsturmführer seinen Namen notiert – hierdurch befürchtete Schwandt persönliche Nachteile, sofern er den Befehlen keine Folge leisten würde. Der Aussage von Sievert nach habe Schwandt sogar angeblich noch gegen den Erschießungsbefehl protestiert – ihm seien jedoch daraufhin Konsequenzen angedroht worden.[17]

Letztlich gab Schwandt den Befehl an die ihm untergebenen Polizeibeamten weiter, dass die Gruppe der KZ-Häftlinge weiter in das Neustädter Holz zu führen sei. Die bewachte Gruppe der KZ-Häftlinge wurde entlang des zivilen Schießstandes in Richtung der Militärschießstände im Neustädter Holz getrieben.[18] Links hinter dem Schützenschießstand bog die Kolonne ab.[19] Laut Sievert befahl Schwandt, die KZ-Häftlinge in eine Geländevertiefung beim Schießtand zu bringen.[20] Der Schützenschießstand war damals noch etwas länger – vermutlich wurde die Schießbahn erst Mitte der 1980er Jahren verkürzt, wie entsprechende Karten nahelegen.

Quelle: Ausschnitte topografischer Karten 1:25.000. Zu erkennen ist die Lage des Schützenschießstandes im Neustädter Holz. Dieser war früher noch länger und wurde später gekürzt. Hinter dem Schießstand befand sich der als "Mulde" beschriebene Platz, an den die KZ-Häftlinge erschossen werden sollten. 

Im Zuge seiner Vernehmung fertigte Ahlborn zudem präzise Handskizzen, die den genauen Standort der Geländemulde angeben und darüber hinaus Angaben zu den Abläufen enthalten. Ihm zufolge ordnete Sievert an, dass sich die Häftlinge bäuchlings auf den Boden zu legen hätten.[21] Sieverts eigene Aussage bestätigt dies nicht – ebenso nicht die von Jakob Decker. Schwandt bestätigte zumindest indirekt, dass die KZ-Häftlinge gesessen oder gelegen haben müssen.[22] 

Als Schwandt die ihm unterstellten Polizeibeamten schließlich über den Schießbefehl informierte, protestierten einige offenbar lautstark dagegen.[23] Scheinbar hörten dies auch die KZ-Häftlinge – sie sprangen auf und liefen in verschiedene Richtungen davon, so berichtete Schwandt in einer späteren Vernehmung.[24]

Quelle: abgepauste Handskizze - im Orig. gezeichnet durch Helmut Ahlborn (WO 208/4666). Die Skizze zeigt die Lage der Mulde hinter dem Schützenschießstand im Neustädter Holz. In diesem Bereich fanden laut den Vernehmungsprotokollen die Erschießungen statt. 

Die Polizisten eröffneten daraufhin das Feuer auf die Flüchtenden und verfolgten diese. Decker gab später an, dass er anschließend 20 – 30 tote Häftlinge in der Mulde liegen sah.[25] Er selber sei jedoch nicht an der Erschießung beteiligt gewesen und habe sich währenddessen abseits aufgehalten. Der Celler Polizeichef, Major Hermann Oetzmann, habe die beteiligten Polizeibeamten in einer anschließenden Besprechung zu absolutem Stillschweigen über diese Ereignisse verpflichtet – die Toten sollten unverzüglich bestattet werden.[26]

Inwiefern sich die Ereignisse damals tatsächlich genau so zugetragen haben, lässt sich auf Grundlage der wenigen verfügbaren Quellen nicht mehr klären. Die teils widersprüchlichen Einzelaussagen liefern sicher kein objektives Bild der Geschehnisse, wie Strebel bereits konstatierte.[27] Dies verwundert wenig, da die Aussagen nicht zum Zwecke einer vollständigen Aufklärung der Ereignisse getätigt wurden, sondern vielmehr aus individuellen Interessen, um einer möglichen Bestrafung zu entgehen. 

Nicht alle offenen Fragen konnten daher im Rahmen des „Celle Massacre Trial“ unmittelbar nach Kriegsende aufgeklärt werden. Die Auseinandersetzung mit den Ereignissen des 8. April 1945 dauerte sehr lange.[28] Mit seiner umfangreichen Veröffentlichung leistete Strebel diesbezüglich einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zur lokalhistorischen Aufarbeitung. Der praktische Umgang mit der Geschichte blieb jedoch ungeklärt.

Bild: Geländemulde hinter dem Schützenschießstand nördlich des Lönswegs heute. Quelle: H. Altmann. 

Bereits im November 2007 lehnten CDU und FDP-Vertreter im Kulturausschuss des Rates der Stadt Celle einen Antrag der Grünen ab, der die Errichtung von zwei Gedenktafeln für die Opfer des Bombenangriffs des 8. April 1945 in Neuenhäusen vorgesehen hatte.[29] Stattdessen brachte die CDU ihren Vorschlag vor, eine langfristige Ausstellung in Erinnerung an die Ereignisse zu realisieren.[30] Fundstücke und Materialien, mit denen man einen solchen Erinnerungsort ausstatten hätte können, waren genug vorhanden. Bei den Bauarbeiten im Rahmen der Verlängerung der Biermannstraße wurden im Bereich des Güterbahnhofs in zugeschütteten Bombenkratern eine große Menge von Funden geborgen, die unmittelbar mit dem 8. April 1945 in Verbindung gebracht werden konnten.[31] 

Realisiert wurden jedoch weder die Gedenktafeln noch die Ausstellung bzw. ein entsprechender Erinnerungsort. Sicherlich ein Grund dafür: damals verfügte Celle bereits längst ein entsprechendes Mahnmal – am 7. April 1992 war dieses in den Celler Triftanlagen eingeweiht worden. Obgleich an der Umsetzung begründete Kritik geäußert wurde, blieb es letztlich dabei.[32] War/ist das Kapitel der Aufarbeitung damit abgeschlossen? Wohl eher nicht, wie die jüngsten Ereignisse nahelegen.

Bild: Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis unmittelbar neben der Geländemulde. Quelle: H. Altmann. 

Unmittelbar neben der Geländemulde nördlich des Lönsweges sind deutlich erkennbare Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis an mehreren Bäumen angebracht worden. Der Gesamteindruck sieht ziemlich stümperhaft aus – insbesondere deshalb, weil die Hakenkreuze falsch herum gesprayt wurden. 

Es könnte natürlich ein Zufall sein, dass diese Schmierereien ausgerechnet an einem Ort angebracht worden sind, an dem in der Nacht vom 8. auf den 9. April 1945 eine Gruppe von KZ-Häftlingen zur Erschießung gebracht worden ist. Eventuell wussten die Verantwortlichen für die Schmierereien hiervon nichts. Dies könnte unter anderem auch daran liegen, dass vor Ort überhaupt nichts an die einstigen Geschehnisse erinnert bzw. darüber objektiv informiert.

Bild: Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis unmittelbar neben der Geländemulde. Quelle: H. Altmann. 

Es lässt sich festhalten, dass die Aufarbeitung der Geschehnisse des 8. April 1945 sowie seiner Folgetage längst noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann. Dass an einem derart sensiblen Ort, wie der Geländemulde im Neustädter Holz, in der damals KZ-Häftlinge zur Erschießung gebracht worden sind, heute Hakenkreuz-Schmierereien und „Heil Hitler“-Graffitis vorzufinden sind, ist nicht hinnehmbar. 

Es ist ganz offensichtlich bis heute versäumt worden, derartige Orte, die mit dem 8. April 1945 in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen, in ein – wie auch immer ausgestaltetes – öffentliches Gedenkkonzept einzubinden.

H. Altmann

Stand: 17.04.2024
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[1] U.a.: Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte; Bertram, April 1945 – Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der KZ-Häftlinge aus Drütte, in: Schriftenreihe des Stadtarchivs Celle und des Celler Bohmann-Museums; Wegener, Erforschung eines Kriegsverbrechens, in: Cellesche Zeitung, 04.04.2020; Altmann, Bomber über Celle, in: Cellesche Zeitung v. 10.04.2021.

[2] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 12 ff.

[3] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 68.

[4] Aussage Streland v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[5] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 86.

[6] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[7] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[8] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[9] Tzschöckell, Schicksalstage in der Heide, CZ v. 05.05.1950.

[10] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 59 ff.

[11] Aussage Schwandt v. 29.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[12] Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[13] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[14] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[15] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[16] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 95.

[17] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[18] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[19] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[20] Aussage Sievert v. 09.03.1946, PRO FO 1060/4133.

[21] Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666.

[22] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[23] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133; Aussage Ahlborn v. 01.01.1946, WO 208/4666; Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[24] Aussage Otto Schwandt am 29.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[25] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[26] Aussage Jakob Decker am 10.03.1946, TNA WO 1060/4133.

[27] Strebel, Celle April 1945 revisited – ein amerikanischer Bombenangriff, deutsche Massaker an KZ-Häftlingen und ein britisches Gerichtsverfahren, in: Celler Beiträge zur Landes- und Kulturgeschichte, Bd. 38, S. 16 ff.

Wegener, Erforschung eines Kriegsverbrechens, in: Cellesche Zeitung, 04.04.2020.

[29] Cellesche Zeitung v. 23.11.2007.

[30] Cellesche Zeitung v. 23.11.2007.

[31] Cellesche Zeitung v. 15.11.2006.

[32] Rohde, 25 Jahre Mahnmal für die Opfer des 8. April 1945 in den Triftanlagen / „Celler Platte“ oder „zeitlos mahnend“, in: revista Nr. 84 April/Mai 2017, S. 20-23.


Samstag, 23. Dezember 2023

Abenteuerliche Suche nach der Wüstung Bagehorn im Lüßwald


Historische Karten belegen, dass die Landschaft zwischen Eschede und Hösseringen in den letzten Jahrhunderten nur spärlich besiedelt war. Für ältere Zeiten fehlen schriftliche Belege für weitere Siedlungen ebenso. Dennoch wurde die Annahme begründet, dass sich in diesem Bereich einst die ehemalige Siedlung „Bagehorn“ befunden haben könnte. Eine Zusammenfassung und aktuelle Forschungsansätze.

In Hinblick auf Dorfwüstungen, also aufgegebene Siedlungen, schwingt häufig eine gewisse Schwere der Geschichte mit. Was mag die Bewohner im Einzelfall zu ihrer Aufgabe bewogen haben? Welche Schicksale mögen sich zugetragen haben? Kriege, Krankheiten, wirtschaftliche Faktoren und weitere Einflüsse werden regelmäßig als Ursachen für die Entstehung von Wüstungen benannt. In einigen Fällen dürften die Hintergründe allerdings durchaus weniger tragisch gewesen sein – gelegentlich führten familiäre Umstände oder die einsetzende Fluktuation in Städte dazu, dass alte Siedlungen und insbesondere einzelne Hofstellen aufgegeben wurden und „wüst“ fielen.

Je nach Zeitstellung und Umständen der historischen Begebenheiten kann es aus heutiger Sicht mitunter Schwierigkeiten bereiten, die genauen Standorte ehemaliger Siedlungsorte zu ermitteln. Die Anzahl der bekannten und lokalisierbaren Ortswüstungen im Raum Celle ist überschaubar. Aufhorchen lässt daher ein Beitrag des Lehrers und ehemaligen Rektors der Celler Mittelschule, Friedrich Barenscheer, der am 19. April 1972 im Sachsenspiegel in der Celleschen Zeitung erschien. Barenscheer berichtete darin von den Nachforschungen zu der Wüstung Bagehorn im Lüßwald bei Unterlüß.

Bild: Beitrag im Sachsenspiegel. Quelle: Barenscheer, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1979.

Die Geschichte begann mit einer Anfrage des Alfonso Gall-Bagehorn an die Gemeinde Unterlüß im Oktober 1971. Der damals in Spanien wohnhafte Gall-Bagehorn interessierte sich für die Herkunft seiner Familie mütterlicherseits. In seinen Briefen an den Unterlüßer Bürgermeister und an Friedrich Barenscheer beschrieb er, dass er in den Dreißigerjahren eine Auskunft erhalten habe, wonach sich einst ein Hof Bagehorn im Gebiet von Unterlüß befunden haben soll.[1] 

Alfonso Gall-Bagehorn gab an, diese Information erhalten zu haben, als er Inhaber eines Exportgeschäftes in Hamburg gewesen sei und wie alle Selbstständigen den sogenannten „Ariernachweis“ zu erbringen hatte. Um seinen pflichtgemäßen Abstammungsnachweis entsprechend der nationalsozialistischen Vorgaben zu erbringen, setzte sich Gall-Bagehorn demzufolge intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander.

Wie er in seinen Schreiben angab, nutzte Gall-Bagehorn die damals populäre Tageszeitung „Hamburger Fremdenblatt“ für eine Anfrage nach der Herkunft seines Familiennamens. Die hierauf erteilte Auskunft, dass der Name auf einen ehemaligen Bauernhof im Bereich von Unterlüß zurückzuführen sei, veranlasste ihn, sich hierzu gegen Anfang der Siebzigerjahre vor Ort weitergehende Erkundigungen anzustellen. Insbesondere interessierte er sich dafür, ob evtl. ein alter Flurname auf den Standort des ehemaligen Gehöfts hindeuten würde.

Friedrich Barenscheer hatte sich intensiv mit der regionalen Flurnamenforschung auseinandergesetzt.[2]Er setzte den Familiennamen Bagehorn mit der tradierten Flurbezeichnung Bogenhorn östlich von Unterlüß in Verbindung.[3] Eine Ortsbegehung unter Unterstützung des Oberforstmeisters Bretschneider erbrachte für Barenscheer weitere Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wüstung Bagehorn südwestlich der heutigen Siedlung Lünsholz befunden haben müsste. Dort konnten die Ausläufer des trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, eines Vorläufers der Aschau, entdeckt werden. In diesem Bereich verortete Barenscheer schlussendlich die Wüstung Bagehorn. Obwohl er sich durchaus verwundert darüber zeigte, dass bis dahin „heimische Forscher (...) die Wüstung nicht entdeckt“ hätten, konstatierte er, dass „an dem Vorkommen des Hofes Bagehorn kein Zweifel“ bestehen könne. [4]

Bild: bis heute ist das Urstromtal des Drellebachs im Gelände sichtbar. Quelle: H. Altmann, 2023.

In der 1996 erschienenen Gemeindechronik von Unterlüß kam Jürgen Gedicke allerdings zu dem Schluss, dass sich keine hinlänglichen Beweise für eine bäuerliche Siedlung Bagehorn fänden ließen.[5] Er schlussfolgerte stattdessen, dass sich in dem Bereich der vermeintlichen Wüstung – rund vier Kilometer westlich entfernt vom herzoglichen Jagdschloss in Weyhausen – einst eine Hetzschanze und eine Unterkunft für die Treiber aus den umliegenden Dörfern befunden haben könnte. Die Aufgabe der Treiber war es, das Wild in die unmittelbare Nähe der Jagdgesellschaften zu treiben. Gedickes Einschätzung ging vermutlich nicht zuletzt auf die Darstellungen von Paul Paschke zurück, der den Flurnamen Haßloh ebenfalls mit eine solchen jagdlichen Einrichtung in Zusammenhang gesetzt hatte. [6]

Bild: Rubrik "Briefkasten". Quelle: Hamburger Fremdenblatt, Abendausgabe, Jg. 109, Ausgabe 262, 22.09.1937, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky.

Die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse belegen, dass die Angaben des Alfonso Gall-Bagehorn als plausibel einzustufen sind. Gall-Bagehorn – mit vollem Namen: Sebastian José Alfonso Gall von Bagehorn – wurde Mitte der Dreißigerjahre Einzelprokura in einem Hamburger Kaufmannsbetrieb eingeräumt.[7] Gall-Bagehorn hatte angegeben die Information zu dem aufgegeben Gehöft bei Unterlüß über den „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts erhalten zu haben. Der „Briefkasten“ war eine fest etablierte Rubrik im Hamburger Fremdenblatt. Abonnenten der Zeitung konnten darin alle möglichen Fragen platzieren, um in den Folgeausgaben hierzu Antworten von der Redaktion zu erhalten.

Es ist festzustellen, dass sich die Anzahl der familiengeschichtlichen Anfragen im „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts nach Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze[8] ab 1935 merklich steigerten. Allerdings konnte sich Gall-Bagehorn nicht an das genaue Erscheinungsdatum der Auskunft zu seiner Anfrage erinnern – auch Friedrich Barenscheer gelang es nicht, den Verfasser der Information zur Wüstung Bagehorn des „Briefkastens“ ausfindig zu machen. Die Recherchemöglichkeiten haben sich seit 1972 jedoch erheblich verbessert. Inzwischen liegt das Hamburger Fremdenblatt vollständig digitalisiert vor. Trotz der früher verwendeten Frakturschrift ist mit wenigen Eingaben eine Volltextsuche in allen verfügbaren Ausgaben der Zeitung möglich.

Am 22. September 1937 erschien tatsächlich ein Hinweis auf den Ortsnamen Bagehorn im Briefkasten des Hamburger Fremdenblatts. Die damals gestellte Anfrage richtete sich jedoch auf die Bedeutung der Familienname Penzhorn und Misselhorn. Unter Verweis darauf, dass der Name Misselhorn an der Landstraße zwischen Hermannsburg und Unterlüß vertreten ist, wurde ebenfalls der Name Bagehorn als ein Beispiel für einen Familiennamen in der Lüneburger Heide genannt, der aus einem Ortsnamen hervorgegangen sei.[9] 

Sonstige Einträge zu Bagehorn sind in den Ausgaben des Hamburger Fremdenblatts in den Dreißigerjahren nicht erschienen. Unter Umständen kam es zu einer Ortsverwechselung, auf der dann auch die anschließenden Nachforschungen Barenscheers aufbauten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der mutmaßliche Hinweis auf die Ortswüstung „Bagehorn“ und auch die etymologische Ableitung durch Barenscheer von „Bagehorn“ auf „Bogenhorn“ standhalten, ergibt sich weiterer Klärungsbedarf.

Bild: Lüßkuhle unmittelbar nördlich von Lünsholz. Quelle: H. Altmann, 2023.

Insbesondere ist fraglich, ob die Lokalisierung der vermeintlichen Ortswüstung zutreffen kann. Hierfür wäre zunächst zu klären, wo genau sich die Flur „Bogenhorn“ einst befand. Barenscheer stellte fest, dass die Flur auf der Kreiskarte als Beilage zum Speicher[10] „irrtümlich nördlich der Straße“ zwischen Weyhausen und Unterlüß angegeben worden sei.[11] 

Dabei verließ er sich offenbar auf die Eintragung des „Bogenhorn“ im Jagen 80 in der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899. Der Abgleich von georeferenzierten historischen Karten und die Auswertung moderner Laserscanaufnahmen zeigt jedoch, dass es nicht so einfach ist, den genauen Standort der Flur „Bogenhorn“ zu ermitteln.

Bild: Lüßberg - ehemals "Fahlen Berg". Quelle: H. Altmann, 2023.

Laut der Kurhannoverschen Landesaufnahme, aufgenommen durch Offiziere des hannoverschen Ingenieurskorps im Jahr 1777, liegt die Flur Bogenhorn eindeutig nördlich der später errichteten Straße zwischen Weyhausen und Unterlüß.[12] Die bezeichnete Stelle liegt hiernach nordöstlich der ebenfalls eingetragenen Lüßkuhle, unmittelbar am Fahlen Berg.

Dieser wird in späteren Kartenwerken zwar nicht mehr als solcher aufgeführt – an seiner Stelle wurde fortan jedoch der Lüßberg verzeichnet. Die Lüßkuhle ist bis heute im Gelände als natürliche Senke auffindbar. Bemerkenswert ist, dass in der Karte von 1777 südlich der Lüßkuhle die Flurnamen Kempelhorn und Auf der Warte verzeichnet sind.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Kurhannoversche Landesaufnahme 1777, Blätter Hermannsburg und Holdenstedt, Google Earth.

Im Atlas von Papen aus dem Jahre 1831 tauchen die Flurbezeichnungen nicht auf. Erst in einer Spezialkarte des ehemaligen Forstreviers Dalle aus dem Jahr 1848 treten die Flurbezeichnungen Bogenhorn und Kempelhorn wieder in Erscheinung. Zu bemerken ist, dass die Flurbezeichnung Kempelhorn laut dieser Karte deutlich weiter nördlich eingetragen worden ist und die Bezeichnung des Bogenhorn weiter südlich. Beide Flurnamen befinden sich laut der Karte von 1848 ungefähr auf gleicher Höhe. 

Die seltsame Wanderung der Flurnamen scheint sich in Hinblick auf spätere Kartenwerke fortzusetzen. In der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899 ist die Flur Kempelhorn bereits unmittelbar nördlich von Lünsholz und etwas südlich der Lüßkuhle zu finden. Die Flurbezeichnung Bogenhorn war noch weiter nach Süden verlegt worden und befand sich nun im Bereich jenes trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, wo Barenscheer schließlich die vermeintliche Wüstung Bagehorn platzierte.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Karte des Deutschen Reiches 1:100.000, Google Earth.

Die Genese der Flurnamen ist beachtenswert. Das Kempelhorn „wanderte“ im Laufe von rund 120 Jahren etwa zwei Kilometer in nördliche Richtung – das Bogenhorn schaffe es dagegen sogar rund zweieinhalb Kilometer in den Süden. Ursächlich mag gewesen sein, dass in der Gegend nur wenige markante Fixpunkte existierten, an denen sich die Flurbezeichnungen hätten richten können. 

Diese Entwicklung zeigt jedoch, dass die Flurnamen nur begrenzt Aufschluss über den Standort der mutmaßlichen Wüstung geben. Die Geländebeobachtungen Barenscheers können somit keine Lokalisierung der vermeintlichen Wüstung liefern, da diese – sofern sie tatsächlich mit dem Flurnamen Bogenhorn zusammenhängt – sehr wahrscheinlich weiter nördlich lag.

Bild: Abfall des Geländes im Bereich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Die vermeintlich als „Bogenhorn“ identifizierte Stelle wird in der Kurhannoverschen Landesaufnahme als „Auf der Warte“ bezeichnet. In Zusammenhang mit der markanten Geländeformation könnte es sich hierbei möglicherweise dennoch um eine interessante historische Stelle handeln. 

Als „Warten“ bezeichnete Bereiche waren in früherer Zeit nicht selten die Standorte vorgeschobener (militärischer) Beobachtungsposten. Tatsächlich liegt in unmittelbarer Nähe zu dieser Örtlichkeit eine markante rechteckige Schanze, deren historische Bestimmung bislang noch nicht geklärt werden konnte. Die Flur „Auf der Warte“ befindet sich auf einer beachtlichen Geländeanhöhe, was die Annahme eines Beobachtungspunktes stützen könnte.

Bild: Relikte einer rechteckigen Schanze südlich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Ob der Familienname Bagehorn auf einen wüst gefallenen Bauernhof im Lüßwald zurückgeht, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Ausgeschlossen wäre die Existenz einer Wüstung im Lüßwald wohl zwar nicht – Urkundenbücher, Zins-, Lehn- und Viehschatzregister sowie auch sonstige historische Quellen geben diesbezüglich jedoch keinerlei Hinweise.[13] Mythen, Sagen und Legenden zu einem untergegangenen Gehöft in dieser Gegend sind bislang nicht bekannt geworden. 

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass in Bezug auf die mutmaßliche Wüstung Bagehorn lediglich eine Verwechselung vorliegen sollte, so hält der Lüßwald sicherlich noch viele spannende Entdeckungen bereit.

Hendrik Altmann

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[1] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel Jg. 31, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[2] Alpers/Barenscher, Celler Flurnamenbuch, 1952.
[3] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[4] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[5] Gedicke, Chronik der Gemeinde Unterlüß, Bd. 1, S. 189.
[6] Paschke, Der Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 05.03.1932.
[7] Hamburger Fremdenblatt v. 16.05.1935, Eintragungen in das Handelsregister v. 14.05.1935.
[8] RGBl. Teil I, Nr. 100 v. 16.09.1935.
[9] Hamburger Fremdenblatt, Briefkasten, Abendausgabe v. 22.09.1937.
[10] Helmke/Hohle, Der Speicher, 1930.
[11] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[12] Kurhannoversche Landesaufnahme des 18. Jahrhunderts, Blatt Nr. 91, 92 Hermannsburg/Holdenstedt, 1777.
[13] Dolle/Flöer, Die Ortsnamen des Landkreises Celle, 2023.