Das Gelände am Reiherberg bei Scheuen blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Für wenige Jahre befand sich vor Ort eine Volks- bzw. Geländesportschule. Über diese Einrichtung war bislang kaum etwas bekannt geworden. Aktuelle Archivrecherchen geben Aufschluss über die historischen Hintergründe.
Bereits in der Kaiserzeit wurde das Areal militärisch als Exerzierplatz genutzt.[1] Gegen Ende des Ersten Weltkriegs verwendete die Kaiserliche Werft Wilhelmshafen das Gelände als Marineflugplatz. Später zog ein Erholungsheim des Berliner Jugendamtes in die Gebäude ein. Im Jahr 1925 wurde im vorderen Bereich des Reiherbergs ein Landerziehungsheim der Stadt Berlin eingerichtet. Bevor schließlich die Heeresmunitionsanstalt Celle/Scheuen in den Dreißigerjahren auf dem Reiherberg errichtet wurde, war eine Volks- bzw. Geländesportschule in den Gebäuden des ehemaligen Marineflugplatzes untergebracht.
Tatsächlich handelte es sich bei dieser Volks- bzw. Geländesportschule jedoch nicht um einen vermeintlich harmlosen Freizeitort zur körperlichen Ertüchtigung. Wie andere im Reichsgebiet eingerichtete Schulen, diente auch die Sportschule bei Scheuen der Wiederherstellung der nationalen Wehrbereitschaft – dies insbesondere mit Blick auf die Ertüchtigung jüngerer Jahrgänge. Unterstützt durch die Reichsregierung, dienten die Sportschulen dazu, im Geheimen gezielt die Vorgaben des Versailler Vertrags zu unterlaufen. Die Ergebnisse aktueller Archivrecherchen belegen die historischen Zusammenhänge eindrucksvoll.
Bild: Lage der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Messtischblatt Celle, 1:25.000, 1931.
Der Friedensvertrag, der am 28. Juni 1919 geschlossen wurden („Versailler Vertrag“) sah erhebliche Einschränkungen für das im Ersten Weltkrieg unterlegene Deutschland vor. Insbesondere die Anzahl militärischer Ausbildungsschulen wurde drastisch reduziert.[2] Darüber hinaus wurde es Unterrichtsanstalten, Hochschulen, Kriegsvereinen, Schützengilden Sport- und Wandervereinen und überhaupt Vereinigungen jeder Art untersagt, sich mit militärischen Dingen zu befassen.[3]
Verboten war insbesondere die waffentechnische Ausbildung. Eine Verbindung entsprechender Vereinigungen mit dem Kriegs- bzw. Reichswehrministerium sowie anderen militärischen Behörden war ebenfalls verboten. Der Reichswehrminister, Wilhelm Groener, äußerte in einem Schreiben an den Reichskanzler, Heinrich Brüning, zu den Bedingungen des Versailler Vertrags, dass dieser uns „zu einer Wehrverfassung (zwingt), innerhalb der keine Möglichkeit besteht, durch militärische Ausbildung der Masse der männlichen Bevölkerung einen heranzubilden, von dessen Güte und Ausbildungsgrad die Verteidigungsfähigkeit des Reiches wesentlich abhängig ist.“[4]
Bild: Lage der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Archiv Altmann.
Von Seiten des Reichswehrministeriums bestand vor diesem Hintergrund ein gesteigertes Interesse, mögliche Schlupflöcher in der einschränkenden Gesetzeslage zu suchen. Somit rückte auch die körperliche Ertüchtigung der Jugend in den Fokus. Da nicht nur das Ausbildungswesen, sondern auch die allgemeine Wehrpflicht durch die Vorgaben des Versailler Vertrags kassiert worden waren, musste das restlich verbliebene Berufsheer mit einem einigermaßen ausgebildeten Personenersatz versorgt werden.[5]
Bereits unter dem Vorgänger Groeners, dem Reichswehrminister Otto Geßler, war ab 1924 die sogenannte Volkssportorganisation geschaffen worden. Diese sollte dazu beitragen, dass im Ernstfall zumindest für den bereits überalterten Grenzschutz ein junger vorgebildeter Ersatz verfügbar war.[6] In jeder Provinz des Reiches wurden Volkssportschulen eingerichtet, deren inhaltliche Ausbildungstätigkeit u.a. in gymnastischen Übungen, Kleinkaliberschießen und Wanderungen bestand. Die Tätigkeiten innerhalb der Volkssportorganisation stellten von Beginn an eine Gradwanderung in Hinblick auf die restriktiven Vorgaben des Versailler Vertrags dar.
Die praktische Organisation der Volkssportschulen oblag in der Anfangszeit regelmäßig privaten Vereinigungen, die verschiedentliche staatliche Unterstützung erfuhren. Schwierigkeiten ergaben sich dadurch, dass die Vorgaben des Versailler Vertrags ebenfalls eine Verbindung von Militärbehörden und privaten Vereinigungen sanktionierten. Eine offizielle Einflussnahme des Reichswehrministeriums war hiernach eigentlich ausgeschlossen. Aus dessen Sicht ergaben sich zur Mitte der 1920er Jahre jedoch gravierende Nachteile aus der Zurückhaltung der Reichsbehörden. Bemängelt wurde unter anderem, dass der Fokus auf die Hebung der Durchschnittsleistung gelegt werden müsste, anstatt auf Spitzenleistungen in einzelnen Sportarten.[7] Schließlich benötigte man keine Spitzensportler, sondern Nachwuchs, der im Durchschnitt geistig und körperlich den Anforderungen genügte.
Politisch bestanden weitere Bedenken gegenüber der Volkssportorganisation außerhalb des staatlichen Zugriffs. Die vorhandenen privaten Vereinigungen würden die Abschottung gesellschaftlicher Schichten fördern und zu einer Politisierung beitragen. Rechtsgerichtete Vereine „treiben die Ausbildung ihrer Mitglieder vielfach mit einer innerpolitischen Tendenz gegen den Staat, der nichts tue, um die Jugend wehrhaft zu machen; Linksverbände betreiben die Ausbildung ihrer Mitglieder mit der innerpolitischen Tendenz zum „Schutze der Republik“, so Generalmajor von Schleicher in einem Schreiben an die Reichskanzlei.[8] Vor diesem Hintergrund bestand ein gesteigertes Interesse seitens der Reichsregierung, die Vielzahl privater Vereinigungen in einer einheitlichen Organisationsstruktur zu bündeln.
Eine große Herausforderung bestand darin, staatliche Stellen stärker in die vormilitärische Ausbildung einzubeziehen, ohne hierdurch Sanktionen des Versailler Vertrags zu provozieren. Einen möglichen Ansatzpunkt sah das Reichswehrministerium darin, die Auslegung des Versailler Vertrags anzupassen. Die „Wehrhaftmachung“ sollte nicht als „militärische Ausbildung“ im Sinne des Vertragstextes verstanden werden.[9] Bestimmte Übungen, verstießen nach Auffassung des Reichswehrministeriums demnach nicht gegen den Versailler Vertrag, wenn sie lediglich mit militärischen Aufgabengebieten in Verbindung gebracht werden können – entscheidend sei vielmehr ob die Zwecke der Übungen keine anderen als ein rein militärische sind.[10] Auf Grundlage dieser großzügigen Auslegung konnten eine Reihe von Aktivitäten als „sportlich“ anstatt als „militärisch“ eingestuft werden – darunter z.B. Gepäckmärsche, Schanzen, Kleinkaliberschießen u.v.m..
Bild: Übungen in der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: NLA Hannover Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
Das exakte Gründungsdatum der Volkssportschule in Scheuen ließ sich quellenseitig nicht ermitteln. Verschiedene Dokumente geben jedoch darüber Aufschluss, dass in der „Deutschen Volkssportschule Scheuen“ ab 1926 Lehrgänge durchgeführt worden sind.[11] Aus der Scheuener Schulchronik geht hervor, dass die Volkssportschule im März 1927 eröffnet worden sei.[12] Ausweislich einer zeitgenössischen Broschüre handelte es sich um eine Einrichtung des der „Reichsarbeitsgemeinschaft Volkssport“ in Berlin angeschlossenen „Vereins für Volkssport e.V.“.[13] Laut Broschüre stört „keine Politik, kein Parteigezänk ihren Frieden.“[14]
Es scheint jedoch bereits in der Anfangszeit der Volkssportschule Auffälligkeiten gegeben zu haben – in einem Schreiben des Celler Landrats an den Regierungspräsidenten in Lüneburg heißt es, die Volkssportschule in Scheuen würde in größerem Stil Propaganda machen.[15] Nicht abschließend geklärt ist, welche Verbindung zwischen dem „Verein für Volkssport e.V.“, der in Scheuen präsent war und der 1924 gegründeten Volkssportorganisation im Zeitablauf bestanden. Ein direkter Kontext dieser Institutionen liegt jedoch nahe. So gab der zuständige Provinzialvertreter des Verbands der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland seinem Schreiben vom 12.12.1928 an den Regierungspräsidenten in Hannover an, dass die Volkssportschule in Scheuen der „vor etwa 4 Jahren entstandenen Volkssportbewegung“ angehört.[16] Diese Verbindung zur Volkssportorganisation spricht dafür, dass die Volkssportschule Scheuen nicht ausschließlich zivile Ausbildungsziele verfolgte.
Insbesondere das linke Spektrum begegnete den Volkssportschulen mit Skepsis. Die sozialdemokratische Tageszeitung „Volkswille“ in Hannover warnte unter der Überschrift „Eine reaktionäre Volkssportbewegung“ im März 1929 vor der aufstrebenden Bewegung. Obwohl der Verband der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland nicht der Ansicht war, dass „die alljährliche Wiederholung tendenziöser Behauptungen in der Presse dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit, selbst bei leichtgläubigen Lesern zu erhöhen,“ sah man sich dennoch dazu verpflichtet die Aussagen aus der Presse ins rechte Licht zu rücken.[17]
In seinem Schreiben an die Regierung in Hannover stellte der Provinzialvertreter des Verbands der Volkssportvereine Nordwest-Deutschland klar, dass weder vom Reichswehrministerium noch von sonstigen staatlichen Kassen Mittel zugeflossen seien. Ebenso wurde die verstärkte Beteiligung von vaterländischen Verbänden an den Lehrgängen der Sportschule Scheuen und auch die Fokussierung von militärischen Ausbildungsfächern, wie insbesondere dem Kleinkaliberschießen, vehement abgestritten.[18]
Bild: Auszug aus dem Jahresbericht 1931 der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: NLA Hannover Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
Nach Außen gab sich die Volkssportbewegung zunächst unauffällig – ihre Ausrichtung sei auf die „zielbewusste Körperschulung“ aller gesellschaftlicher Schichten fokussiert, heißt es in zeitgenössischen Broschüren Ende der 1920er Jahre.[19] Politisch sei die Volkssportbewegung vollkommen neutral – hinsichtlich Konfessionen und Stand gäbe es keine Unterschiede. Die positive Außendarstellung überrascht nicht. In den politisch turbulenten Zeiten der Weimarer Republik war es sicherlich noch zu früh, die tatsächlichen Absichten hinter der Volkssportbewegung offen zu kommunizieren. Die Organisation befand sich zudem noch im Aufbau. Um diesen nicht zu gefährden und gleichzeitig eine möglichst breite gesellschaftliche Basis zu schaffen, war eine auf positive Außendarstellung natürlich unentbehrlich.
Organisatorisch unterstand die Volkssportschule Scheuen in ihrer Anfangszeit der „Reichsarbeitsgemeinschaft Volkssport“, die im gesamten Reichsgebiet entsprechende Einrichtungen unterhielt. Der Reichsarbeitsgemeinschaft unterstanden weitere Regionalverbände. In Niedersachen war der „Verband der Volkssportvereine Nordwestdeutschland“ für die Sportschulen Detmold, Wilhelmshaven, Göttingen, Kettwig und Scheuen zuständig.[20] Direkt unterstand die Volkssportschule dem Provinzialvertreter des Verbands in Hannover, Hans Jahns.
Ihre tiefgestaffelte Organisationsstruktur nutzte die Volkssportorganisation, um ihren Einfluss auf Kommunal-, Landes- und Reichsebene stetig auszubauen. Kurioserweise unternahmen die angeschlossenen Verbände große Anstrengungen, um politische Anerkennung sowie die erforderlichen Geldmittel einzuwerben, obwohl die Unterstützung der Bewegung von Seiten der Regierung nie in Frage stand. Ein Umstand, der möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass eine offizielle Unterstützung von Seiten des Reichs vor dem Hintergrund des Versailler Vertrags problematisch war. Trotz einer gewissen Anlaufzeit gelang es den Vertretern der Volkssportbewegung bis Anfang der 1930er Jahre eine straffe Wehrsportorganisation aufzubauen. Dies bestätigt sich ebenfalls mit Blick auf den laufenden Betrieb der örtlichen Volkssportschule in Scheuen.
Bis Ende der 1920er Jahre hatte sich die Institution der Geländesportschule in Scheuen fest etabliert. Im Jahr 1929 erwog der Regierungspräsident von Hannover staatliche Jugendpflegekurse des Regierungsbezirks Hannover in die Obhut der Volkssportschule Scheuen zu legen.[21] Der Verband der Volkssportvereine Nordwestdeutschland betrieb zu dieser Zeit intensive Lobbyarbeit, um weitere Unterstützung von Seiten der Landesregierung zu erhalten. Diese Bestrebungen zahlten sich aus – ab 1930 nahmen die Regierungen von Lüneburg und Hannover ihre Zusammenarbeit mit der Sportschule Scheuen auf.[22]
Der Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen für das Jahr 1929 belegt, dass der Sportschule von behördlicher Seite stetig wachsende Aufmerksamkeit zuteil wurde.[23] Darin führte der Sportschulleiter Böwing unter anderem aus, es sei „also ein erfreuliches Bild, dass diese Zusammenarbeit mit der staatlich geförderten Jugendpflege, die immer enger zu werden verspricht, bietet.“ Im August 1930 bestätigte der Regierungspräsident nochmals die Zufriedenheit in Hinblick auf die Zusammenarbeit zwischen der staatlich geförderten Jugendpflege und der Volkssportschule Scheuen.[24]
Der überwiegende Anteil der Lehrgangsteilnehmer bestand aus Arbeitern und Angestellten mit 42,5 % – gefolgt von Beamten mit 27,5 %. An den 14-tägigen Lehrgängen nahmen im Jahr 1929 insgesamt 227 Personen teil. Die 2-tägigen Kurzlegränge wurden von insgesamt 545 Personen besucht. Diese Zahlen sollten sich in den kommenden Jahren noch stark steigern. Inhaltlich standen Betätigungen, wie Leichtathletik, volkstümliche Übungen und Spiele auf der Tagesordnung.[25] Bis 1931 etablierten sich Sonderkurse im Rettungsschwimmen, Jiu-Jitsu-Lehrgänge und Kurse im Segelfliegen als feste Bestandteile des Tätigkeitsangebots der Volkssportschule Scheuen.[26]
Im Jahr 1931 schlossen sich mitgliederstarke Jugend- und Sportverbände zur sogenannten „Geländesport-Verbände-Arbeitsgemeinschaft“ zusammen (kurz: G.V.A.).[27] Nach eigener Darstellung war diese Organisation bestrebt, möglichst alle wehrwilligen Verbände heranzuziehen[28] – ihre Ausrichtung lag ganz klar auf einer wehrsportlichen Agenda. Einheitliche Richtlinien, die im Einvernehmen mit den zuständigen Behörden erfolgten, legten den Fokus des Geländesports insbesondere auf Leibesübungen, Ordnungsübungen, Sinnesschärfung, Kartenkunde, Tarnen, Spähen und Streifen, Geländespiele, Lager und technische Fähigkeiten.[29] Neben der einheitlichen Ausrichtung der angeschlossenen Verbände setzte sich die G.V.A. auch für eine gesicherte Finanzierung der Volkssportschulen ein. So wies der Generalleutnant aD Severin als Vertreter der Interessen der deutschen Volkssportschulen in einem Schreiben an den Reichsminister des Inneren im Juni 1932 darauf hin, dass die Gewährung finanzieller Mittel durch das Reich unabdingbar seien, falls man einer Schließung der Volkssportschulen vorbeugen wollte.[30]
Mit der zunehmenden Selbstorganisation der Volkssportverbände wuchs schließlich auch der politische Druck auf die Reichsregierung die aufstrebende Bewegung in geordnete Bahnen zu lenken. Am 13. September 1932 erging vor diesem Hintergrund der Erlass des Reichspräsidenten über die körperliche Ertüchtigung der Jugend. Um die bestehenden Volkssportvereinigungen zur gemeinsamen und einheitlichen Arbeit zusammenzufassen, berief der Reichspräsident mit diesem Erlass das sogenannte Reichskuratorium für Jugendförderung. Als geschäftsführender Präsident des Kuratoriums wurde bezeichnenderweise der General der Infanterie a.D. Edwin von Stülpnagel bestellt.[31]
Die enge Verzahnung zum Militär erfolgte sicherlich nicht zufällig. Erst einen Tag zuvor hatte desbezüglich eine Ministerbesprechung zwischen dem Reichsminister des Innern sowie seinem Amtskollegen aus dem Reichswehrministerium stattgefunden. Insbesondere für Satzungsänderungen und etwaige personelle Wechsel in der Stelle des geschäftsführenden Präsidenten verpflichtete sich der Reichsminister des Innern zunächst die Zustimmung des Reichswehrministers einzuholen.[32] Spätestens ab diesem Zeitpunkt war eine direkte Involvierung der Reichsregierung in die Volkssportorganisation offensichtlich – diese dürfte nicht zuletzt im militärischen Interesse einer Wiederaufrüstung begründet gewesen sein.
Dies wird auch in Hinblick auf die Durchführung der Lehrgänge in der Volkssportschule Scheuen deutlich. In einer Ausschreibung des sogenannten Akademischen Wissenschaftlichen Arbeitsamts („AWA“) vom 12. Juli 1932 wird das AWA-Geländesportlager Herbst 1932 beworben – darunter ebenfalls ein Lehrgang der Gruppe I in Scheuen.[33] Die Tarnbezeichnung „Akademisches Wissenschaftliches Arbeitsamt“ sollte vom wehrsportlichen Charakter der Institution ablenken. Gegründet hatte sie der Ingenieur und Soldat Otto Schwab im Jahr 1930.
Schwab, der später zunächst zum ersten Führer der Deutschen Burschenschaft gewählt wurde, galt als Experte für Wehrwissenschaften und stieg im Zweiten Weltkrieg in den Rang als SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS auf. Seit 1928 organisierte Schwab die paramilitärische Ausbildung von Studenten. In seiner 1933 erschienenen Schrift „Die totale Wehrhaftmachung“ schwadronierte Schwab nicht nur vom Sinn der deutschen Wehrhaftmachung und der Organisation des zivilen Wehrdienstes – er machte ebenso keinen Hehl daraus, dass er für Deutschland die Regierungsform einer Diktatur befürwortete und hierfür ein geeigneter Führer erstehen solle.[34] In den Geländesportschulen ließ Schwab unter dem Decknamen der AWA sodann wehrsportliche Grundausbildungen und hierauf aufbauende Führerausbildungen durchführen.
Bild: Postkartenansicht - Teilnehmer des AWA-Herbst-Lehrgangs im Jahr 1932 in der ehem. Geländesportschule Scheuen. Quelle: Archiv Altmann.
Kürzlich konnte bei einer Auktion eine historische Postkarte ersteigert werden, die eben jene Entwicklungen in der Geländesportschule Scheuen belegt. Die Postkarte zeigt Teilnehmer aus der Stube 12 des AWA-Herbst-Lehrgangs der Gruppe I im November 1932 in der Geländesportschule Scheuen. Die Männer auf dem Gruppenbild sind von Kopf bis Fuß wie Soldaten eingekleidet. Schiffchen, Feldbluse, Koppel, Hose sowie Gamaschen und schwere Stiefel – einigen der Männer hängen Feldstecher an Lederriemen um den Hals. In der Mitte der Gruppe sitzt ein Deutscher Schäferhund.
Es liegt nahe, dass hier keine zivilen Turnübungen absolviert werden sollten, sondern dass die Betätigung vielmehr aus paramilitärischen Wehrsportübungen bestanden haben dürfte. Die Volkssportschule Scheuen hatte sich in dieser Zeit zu einem Zentrum für wehrsportliche Aktivitäten entwickelt. Gegen Ende des Jahres 1932 war sie eine von 16 eingerichteten Geländesportschulen, die auf höchster Ebene dem Reichskuratorium für Jugendertüchtigung unterstanden.
Bild: Postkartenansicht - Teilnehmer des AWA-Herbst-Lehrgangs im Jahr 1932 in der ehem. Geländesportschule Scheuen (Rückseite). Quelle: Archiv Altmann.
Am 6. März 1933 verstarb Edwin von Stülpnagel. Sein Nachfolger als Präsident des Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung wurde der Major a.D. Georg von Neufville. Das Reichskuratorium wurde fortan dem Reichsarbeitsministerium unterstellt.[35] Für die Durchführung des Geländesports hatte dies zunächst keine unmittelbaren Folgen – weitaus gravierender waren dagegen die Auswirkungen die aus der nationalsozialistischen Machtübernahme folgten.
Nachdem der Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, übernahm dieser eine Koalitionsregierung bestehend aus NSDAP, DNVP und Stahlhelm. Für Anfragen und Vorschläge hinsichtlich der Organisation des Wehrsports bzw. der Jugendertüchtigung stand der neue Reichskanzler persönlich zunächst nicht zur Verfügung – aufgrund seiner „überaus starken Belastung mit Dienstgeschäften“. Anfragen wurden daher regelmäßig nur an die zuständigen Ministerien delegiert. Vorschläge zur Reorganisation der nationalen Jugendarbeit kamen seinerzeit vorwiegend von Seiten des Reichswehrministeriums. Insbesondere die Einrichtung eines neuen Reichsjugendministeriums wurde darin angeregt.[36] Ein solches wurde schließlich ab Mai 1934 in Form des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung eingeführt.
Für die Neuausrichtung der Jugendarbeit sah die nationalsozialistische Führung gleichgeschaltete Bahnen vor. Die gesamten Jugendorganisationen im Reichsgebiet waren Mitte des Jahres 1933 unter die einheitliche Führung der Jugend- und Nachwuchsorganisation „Hitlerjugend“ der NSDAP gestellt worden. Die Mitgliedschaft in der Hitlerjugend (HJ) wurde für entsprechende Altersklassen ab dem Jahr 1936 verpflichtend.
Der Übergang von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur manifestierte sich auch in der Sportschule in Scheuen. Eine Postkarte aus dem Jahr 1934 zeigt bereits wehende Hakenkreuzflaggen. Auf der Stirnseite des ehemaligen Flugzeughangars wurde das große Schild des „Verein für Volkssport e.V.“ durch ein neues Schild mit Reichsadler und Hakenkreuz ersetzt. Auf diesem sowie auf der Bildunterschrift der Postkarte ist zu lesen „SA Sportschule“ – ein unmissverständlicher Beleg dafür, dass die Volkssportschule in der Gleichschaltung der Sportverbände unter der NS-Führung aufgegangen war.
Bild: Postkartenansicht der ehem. Geländesportschule Scheuen (1934). Quelle: Archiv Altmann.
Wie lange die Sportschule in der NS-Zeit noch weiter betrieben worden ist, ließ sich anhand von Quellennachweisen bislang nicht eindeutig nachvollziehen. Auf dem Gelände am Reiherberg nördlich von Scheuen entstand ab dem Jahr 1934 die Heeresmunitionsanstalt. Deren Gebäude wurden in zeitgenössischen Karten aus Geheimhaltungsgründen nicht mehr verzeichnet.
Der Abgleich mit historischen Luftbildern und später erschienenen Kartenwerken belegt aber, dass dort wo sich die Sportschule befunden hatte, später Produktions- und Lagergebäude der Heeresmunitionsanstalt errichtet worden sind. Es liegt somit nahe, dass die Sportschule bei Errichtung der Heeresmunitionsanstalt vermutlich aufgelöst worden ist.
Bild: Relikte der späteren Geländenutzung durch die Bundeswehr. Quelle: Archiv Altmann.
Von der einstigen Sportschule ist heute im Gelände ebenso wenig zu erkennen, wie von den später dort errichteten Fertigungs- und Lagergebäuden der Munitionsanstalt. Die Quellenfunde belegen jedoch, dass die ehemalige Volkssportschule bei Scheuen bereits Mitte der 1920er Jahre eine von wenigen Einrichtungen ihrer Art im Reichgebiet war, in denen wehrsportliche Aktivitäten durchgeführt worden sind. Diese erfolgten unter dem Deckmantel des Volkssports, um so gezielt die Vorgaben des Versailler Vertrags zu unterlaufen. Die staatliche Einflussnahme wurde aus Sorge vor Sanktionen weitestgehend kaschiert.
Vermutlich trug nicht zuletzt der Umstand, dass tatsächlich keine Reaktionen der Siegermächte auf die Etablierung der Volkssportorganisation folgten, dazu bei, den staatlichen Einfluss auf die zunehmend vereinheitlichte Organisationsstruktur des Wehrsports zu verstärken. Hierbei wurde jedoch verkannt, dass es vorwiegend demokratiefeindliche und rechtsgerichtete Vereinigungen waren, die dem Wehrsport aktiv beiwohnten und diesen unterstützten.
Bild: von den Gebäuden der ehem. Geländesportschule ist vor Ort nichts mehr zu erkennen. Quelle: Archiv Altmann.
Die wehrsportlichen Aktivitäten der Volkssportschulen reichten für sich betrachtet nicht aus, um Personalersatz in Armeestärke auszubilden. Die Bedeutung der Schulen dürfte daher vor allem in der ideologischen Prägung der Teilnehmer zu sehen sein. Die Lager der Volkssportschulen waren zudem eine Art Testlauf, den der NS-Staat bereitwillig im Zuge der planmäßigen Gleichschaltung der Volksgemeinschaft antizipierte.
Ihrer Bestimmung, den Wehrersatz für eine vermeintliche Bedrohung des Staates von Außen zu sichern, wurden die Gelände- bzw. Volkssportschulen nicht gerecht. Dies ist nicht zuletzt darauf zurück zu führen, dass die äußeren Bedrohungen damals weniger ins Gewicht fielen, als die antidemokratischen inneren Bedrohungen.
Hendrik Altmann
_______________________________________
[1] Schimmelpfeng, Geschichte des 2. Hannoverschen Infanterie-Regiments Nr. 77, S. 100.
[2] Art. 176, Friedensvertrag von Versailles.
[3] Art. 177, Friedensvertrag von Versailles.
[4] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[5] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[6] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[7] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[8] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[9] Schreiben des Reichswehrministers an den Reichskanzler v. 18.10.1930, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[10] Generalmajor von Schleicher, Notizen zur Frage „Wehrhaftmachung der Jugend“, Schreiben an die Reichskanzlei v. 04.03.1931, Bundesarchiv, R 43 II/519.
[11] Jahresbericht 1932 der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[12] Aus der Schulchronik von Scheuen von Lehrer Rahls; Auszüge aus der Schulchronik 1902 – 1927, Kreisarchiv Celle.
[13] Broschüre der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[14] Broschüre der Deutschen Volkssportschule Scheuen, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[15] Schreiben des Celler Landrats an den Regierungspräsidenten zu Lüneburg vom 02.05.1927, NLA Hann. 180 Lüneburg Acc. 3/087 Nr. 254.
[16] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an den Regierungspräsidenten in Hannover vom 12.12.1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[17] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an die Regierung in Hannover vom 04.04.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[18] Schreiben des Provinzialvertreters Hannover des Verbands der Volkssportvereine Nordwestdeutschland an den Regierungspräsidenten in Hannover vom 12.12.1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[19] Broschüre „Deutscher Volkssport“, 1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[20] Broschüre „Deutscher Volkssport“, 1928, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[21] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 18.01.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[22] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 24.10.1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[23] Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen 1929, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[24] Schreiben des Regierungspräsidenten von Hannover vom 30.08.1930, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[25] Übersicht der Lehrgänge des Jahres 1930, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[26] Jahresbericht der Deutschen Volkssportschule Scheuen 1931, NLA Hann. 180 Hannover e4 Nr. 207.
[27] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[28] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[29] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[30] Tätigkeitsbericht der G.V.A. für das Jahr 1931, Bundesarchiv, R 43 II / 519.
[31] Erlass des Reichspräsidenten über die körperliche Ertüchtigung der Jugend vom 13.09.1932, R 43 II / 519.
[32] Auszug aus der Niederschrift über die Ministerbesprechung vom 12.09.1932, R 43 II / 519.
[33] Ausschreibung AWA vom 12.06.1932, R 1501/125676.
[34] Schwab, Die totale Wehrhaftmachung, R 1501/125674.
[35] Schreiben des Reichskuratoriums für Jugendertüchtigung an den Reichsminister des Innern vom 09.05.1933, R 1501/125674.
[36] Schreiben Dr. Kayser, Reichswehrministerium an Staatssekretär Lammers, Reichkanzlei vom 28.03.1933, R 43II/519.