Bezeichnet als „das letzte Aufgebot“ oder eine Armee von „Kindern und Greisen“, stellte der Volkssturm einen verzweifelten Versuch dar, das Kriegsende weiter hinauszuzögern. Archivalien, Chroniken und Zeitzeugenaussagen berichten im Raum Celle teilweise vom militärischen Eingreifen dieser rasch ausgehobenen Truppe. Was ist über die Entstehung, Organisation und den Einsatz des Volkssturms bekannt? Eine chronologische Auswertung der anspruchsvollen Quellenlage.
Der Entstehung des Volkssturms ging eine Phase militärischer Niederlagen voraus. Die Invasion westalliierter Streitkräfte am 6. Juni 1944 in der Normandie, die verlustreichen Kämpfe gegen die Rote Armee in der Ukraine und in Rumänien, die Einkesselung der Heeresgruppe Nord in Kurland und schlussendlich das Zurückweichen der deutschen Truppen nach Ostpreußen im Oktober 1944 markierten den fortschreitenden Niedergang des Dritte Reiches. Angesichts der erheblichen Einbußen an Soldaten und Kriegsgerät steigerte sich der Einsatz der gesamtgesellschaftlichen Ressourcen zum „totalen Kriegseinsatz“, den Adolf Hitler schließlich per Erlass vom 25. Juli 1944 verkündete.[1] Mittels politischer Instrumente setzte das faschistische Regime in den folgenden Wochen einschneidende Maßnahmen durch, um Kräfte für die Wehrmacht und die Rüstungsindustrie freizusetzen.[2]
Schon in den Vormonaten waren im Rahmen sogenannter „Auskämmaktionen“ bereits in den hunderttausende UK-Stellungen[3] Wehrpflichtiger aufgehoben worden und weniger kriegswichtige Betriebe stillgelegt worden, um deren Beschäftigte in den Schlüsselindustrien für die Rüstungswirtschaft einzusetzen. Der Erlass vom 25. Juli schuf vor allem für Reichspropagandaminister Joseph Goebbels weitreichende Entscheidungskompetenzen. Ein Tag vor der Veröffentlichung des Erlasses erschien in allen Zeitungen des Gaues Ost-Hannover die Schlagzeile „Das Volk verlangt den totalsten Krieg“.[4] Insbesondere in staatlichen Einrichtungen wurden nun personelle Kräfte freigesetzt und die Ausrichtung der volkswirtschaftlichen Kapazitäten auf den Kriegseinsatz fokussiert.
Bild: Fiktion und Wirklichkeit - der Volkssturm in Propaganda und Realität. Quelle: US Intelligence Bulletin Vol. III, 1945.
Der, auf den 25. September 1944 datierte, „Erlass des Führers über die Bildung des Deutschen Volkssturms“[5] wurde aufgrund bis in die Nacht andauernder Besprechungen im ostpreußischen Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ zwar erst am darauffolgenden Tag vorgelegt – dafür wurde der Erlass jedoch unverzüglich von Adolf Hitler unterzeichnet.[6] Propagandawirksam wurde der 18. Oktober 1944 als Verkündungstermin ausgewählt – es war der 131. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig.
Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler nahm am 18. Oktober den ersten Apell von Volkssturmeinheiten in Königsberg (Ostpreußen) ab. In seiner Rede verklärte Himmler den „mutigen Kampf aller deutschen Freiheitskämpfer“ in der Leipziger Völkerschlacht zu einem Sieg ungedienter, schlecht ausgerüsteter und mangelhaft bewaffneter Truppen über einen überlegenen Feind. Um dem Volkssturm eine gewisse historische Legitimation zu verschaffen, nahm der Reichsführer SS in Kauf, dass der Vergleich mit der Völkerschlacht freilich zugleich an mehreren Füßen hinkte. Obwohl sich in der frühesten Phase des Volkssturmes durchaus auch kritische Meinungen in historischen Stimmungsberichten widerspiegeln, schritt die Erfassung und Aufstellung der Truppe in den Wochen nach der Verkündung relativ rasch voran.
Bild: allgemeines Schreiben der NSDAP Kreisleitung Celle zur Vereidigung des Volkssturms. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 199. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Am 2. November 1944 ergingen durch die Kreisleitung der NSDAP in Celle Bestätigungsschreiben an die Bataillonsführer der jeweiligen Ortschaften.[7] Insgesamt vierzehn Bataillone umfasste das Celler Kreisgebiet.[8] Ein Bataillon setzte sich aus vier Kompanien (einige fünf), eine Kompanie aus drei bis vier Zügen, ein Zug aus 3 bis vier Gruppen und eine Gruppe aus 10 Volkssturmsoldaten zusammen.[9] Später kamen noch sogenannte Alarmkompanien hinzu. Unter vollständiger Heranziehung aller Kräfte wären im Kreis Celle demzufolge knapp 10.000 Volkssturmleute verfügbar gewesen.
Bild: Einberufungsbefehl zum Volkssturm. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 162. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Die Führung des Volkssturms lag bei der Gauleitung sowie der Kreisleitung der NSDAP. Von ihr waren „zuverlässige und standhafte Nationalsozialisten auszuwählen“, von denen „eine restlose Erfüllung ihrer Führungsaufgaben im Deutschen Volkssturm erwartet werden“ konnte.“[10] Als Kreisstabsführer wurde der SA-Hauptsturmführer Kohnert und als Sachbearbeiter für Ausbildung und Sonderaufgaben der SA-Hauptsturmführer Thies bestellt.[11] Zu dessen Aufgaben gehörte unter anderem die regelmäßige Überprüfung des Dienstes bei den Einheiten im Celler Kreis.[12]
Die Hierarchien der Organisation waren flach angelegt. Volkssturmsoldaten war es dementsprechend untersagt, sich mit Anliegen direkt an die Kreisleitung zu wenden.[13] Auch ohne konkret angeordnete Disziplinarmaßnahmen höherer Führungsebenen, wurde den jeweiligen Bataillonsführern außerdem ein großzügiger Spielraum für Sanktionen eingeräumt.[14]
Bild: Vereidigung des Volkssturms in Unterlüß am 12.11.1944. Quelle: Gemeindearchiv Unterlüß.
Anfang November ging es zunächst an die feierliche Vereidigung der Truppe – diese sollte am 12. November 1944 „nach Möglichkeit um 10.00 Uhr stattfinden.“[15] Die Orte waren durch die Bataillonsführer – im Einvernehmen mit der jeweiligen Ortsgruppenleitung selbstständig zu bestimmen. Am Vortag, dem 11. November 1944, fand für die Bataillons- und Kompanieführer eine weitere Vorbereitungsveranstaltung beim Gauleiter in Lüneburg statt – die Anreise hierzu erfolgte gemeinschaftlich mit dem Autobus.[16]
Die Vereidigung der Volkssturmbataillone fand planmäßig statt – beispielsweise wurde in Unterlüß hierzu um am am 12. November 1944 um 10:00 Uhr auf dem Sportplatz Hohenrieth angetreten und die Vereidigung vorschriftsgemäß abgehalten. In Beedenbostel fand die Vereidigung des Volkssturmes unter den Eichen statt – zuvor wurde ein Kranz am Ehrenmal niedergelegt.[17]
Bild: Vereidigung des Volkssturms in Unterlüß am 12.11.1944. Quelle: Gemeindearchiv Unterlüß.
Der erste offizielle Volkssturmbefehl 1/44 erging nur einen Tag nach der Vereidigung an die Volkssturmleute im Celler Kreis.[18] Darin wurden die Führung, die Erfassung, der Aufbau, die Gliederung und die Bekleidung geregelt. In seinem Aufbau setzte sich der Volkssturm aus vier sogenannten „Aufgeboten“ zusammen, die alle Wehrtauglichen der Jahrgänge zwischen 1884 bis 1928 erfassten. Die jüngsten Volkssturmmänner waren demzufolge im Zeitpunkt Ihrer Erfassung 16 und die ältesten 60 Jahre alt.
Ihre Bekleidung und Ausrüstung hatten alle Volkssturmsoldaten, ohne Unterscheidung ihres Dienstgrades, selbstständig zu beschaffen.[19] Als Bekleidung waren alle Uniformen sowie wetterfeste Sport- und Arbeitskleidung zugelassen. Zu der notwendigen Ausrüstung zählten ein Rucksack, eine Decke, Kochgeschirr, Brotbeutel, Feldflasche, Trinkbecher und Essbesteck. Wo die notwendigen Ausrüstungsgegenstände nicht aus eigenen Beständen beschafft werden konnten, sollten sie im Wege der Nachbarschaftshilfe organisiert werden.
Bild: Auszug Volkssturmbefehl 26/45. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 51. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Der zweite offizielle Volkssturmbefehl 2/44 erging ebenfalls am 13. November 1944 und beinhaltete Anweisungen zur vorläufigen Ausbildung. Diese sollte schwerpunktmäßig den Kampfeinsatz gewährleisten.[20] Eine „gründliche“ Schießausbildung, eine infanteristische Ausbildung sowie die Panzerabwehr sollten in den Vordergrund treten – wohingegen der formale Dienst und Exerzierübungen auf ein unerlässliches Mindestmaß beschränkt werden sollten.[21] Für die Gelände- und Gefechtsausbildung waren laut Volkssturmbefehl 2/44 eine ganze Reihe von grundlegenden Dienstvorschriften vorgesehen – laut Befehlsschreiben waren diese Vorschriften und Bücher jedoch zur damaligen Zeit nicht lieferbar.[22]
Vom 24. Bis zum 30. November 1944 fand für die Bataillonsführer der Kreise Celle, Burgdorf, Gifhorn und Fallingbostel ein Lehrgang bei der Lehrtruppe der Panzertruppenschule im Lager Fallingbostel statt.[23] Derweil die Führungsebene ihre Unterweisung in das militärische Handwerkszeug erhielt, fanden für die Volkssturmsoldaten die ärztlichen Untersuchungen hinsichtlich ihrer Tauglichkeit statt, wobei die Volkssturmärzte bei den Untersuchungen „den Strengen Maßstab anzulegen“ hatten.[24] UK-Stellungen[25], wie es sie bei den Wehrmachtsverbänden gab, existierten im Volkssturm nicht. Die Möglichkeiten sich dem Einberufungsbefehl zu widersetzen waren begrenzt.
Teile der Bevölkerung waren von dieser Tatsache offenbar wenig begeistert, wie beispielsweise ein Stimmungsbericht des einstigen Bürgermeisters Schulze aus Winsen (Aller) vom 22. November 1944 belegt.[26] In seinem Lagebericht an den Regierungspräsidenten hielt der Celler Landrat dagegen fest: „Der Aufruf des Volkssturmes ist auf dem Lande im ganzen durchaus sympathisch aufgenommen. Auch für die Notwendigkeit von Schanzarbeiten besteht im allgemeinen Verständnis. Nur wäre hier zu wünschen, dass bei Einsätzen, wie z.B. dem jetzt im linken Rheingebiet laufenden, die Auswahl sorgfältiger durchgeführt wird. Der landarbeitende Mensch ist bei schwerer Arbeit in nicht wenigen Fällen in den Jahren zwischen 60 und 65 schon verbraucht und in seiner Anpassungsfähigkeit an fremde Verhältnisse schwerfällig geworden. (...)“.[27]
Die in der zweiten Novemberhälfte 1944 ergangenen Volkssturmbefehle und allgemeinen Rundschreiben beinhalteten im Wesentlichen Maßnahmen zur weiteren Organisation und Ausbildung der Truppe. Es handelte sich insbesondere um Anweisungen zu sogenannten Nacherfassungen und dazu, welche Personengruppen im Detail zum Volkssturm einberufen werden sollten. Flakhelfer waren beispielsweise vom Volkssturm ausgeschlossen.[28] Dagegen zählten Arbeiter und Angestellte der Zeugämter, Munitionsanstalten und aller Instandsetzungseinrichtungen grundsätzlich zum Volkssturm.[29]
Bild: Volkssturmsoldaten mit geschulterten Panzerfäusten - Propagandabild. Quelle: US Intelligence Bulletin Vol. III, 1945.
Während die Leitungsebene durch Nacherfassungen die Personalstärke des Volkssturmes zu steigern versuchte, hatten die bereits aufgestellten Bataillone im Kreis Celle ganz andere Probleme – es fehlte am nötigen Übungsgerät. Vielerorts mangelte es im Dezember 1944 an Schusswaffen, die zu Übungszwecken erforderlich gewesen wären. In Unterlüß verfügte ein gesamtes Bataillon zeitweise lediglich über acht Kleinkalibergewehre, die von der örtlichen SA zur Verfügung gestellt worden waren.[30]
Da keine Munition für die Gewehre vorhanden war, bat der Bataillonsführer, Oberstleutnant Paul Guse, die NSDAP Kreisleitung ihm 100.000 Schuss Munition zur Verfügung zu stellen, um die Ausbildung sofort beginnen zu können.[31] Als ehemaliger Kommandant der Luftmunitionsanstalt 4/XI Höfer[32] und in Ausübung seiner Tätigkeit als Betriebsführer in Unterlüß, musste Oberstleutnant Guse wissen, dass solch eine Bestellung aufgrund der damals herrschenden Materialknappheit kaum zu bedienen war. Möglicherweise veranlasste ihn diese Kenntnis auch dazu, die benötigten Patronen kurzerhand selbst zu bestellen.[33] Später bestellte Guse in seiner Eigenschaft als Bataillonsführer auch noch Handgranaten bei der Firma Rinker in Menden – als diese nicht geliefert wurden, erbat er um eine Zuweisung von 120 scharfen Handgranaten durch die Kreisleitung der NSDAP in Celle.[34]
Bild: Aufbau des Unterlüßer Volkssturmbataillons. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 4. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Die Engpässe bei der Bewaffnung sind ebenfalls aus dem Volkssturmbefehl 16/45 vom 15. Januar 1945 abzuleiten. Laut dem Befehl sollten die Bataillone des Kreises Celle bis zum 20. Januar 1945 die Zahl und Art der Waffen melden, die dem Deutschen Volkssturm zur Verfügung standen.[35] Hierbei waren solche Waffen aufzuführen, die von den Volkssturmsoldaten selber oder von Privatpersonen zur Verfügung gestellt worden waren.
Die mangelhafte Ausstattung mit Waffen und Munition wurde in den ersten Wochen des Jahres 1945 bereits mehrmals schriftlich dokumentiert. Im Volkssturmbefehl 17/45 heißt es hierzu: „Einigen Bataillonen ist inzwischen scharfe Infanteriemunition in bescheidenem Umfange zugeteilt worden. Die hierher gelangenden Anfragen wegen weiterer Munitionsbeschaffung sind zwecklos. Alle in dieser Hinsicht unternommenen Schritte der direkten Munitionsbeschaffung für den Kreis sind gescheitert. Der Volkssturm ist daher auf die regelmäßig vom Gau in Aussicht gestellten Zuteilungen angewiesen und wird nach Eingang die Munition weiter verteilen.“[36]
Trotz des Mangels an Waffen und Munition wurden die Bataillonsführer dazu angehalten, dass der Dienst im Volkssturm ordnungsgemäß abgeleistet wird und sich die Soldaten „in ihrer Dienstzeit nicht langweilen“.[37]
Das II. Bataillon des Celler Volkssturms gehörte offenbar zu denjenigen Bataillonen, denen „in bescheidenem Umfange“ scharfe Infanteriemunition zugeteilt worden war. Ein Schreiben des Celler Landrats an den SA Hauptsturmführer Thies vom 14. Dezember 1944 belegt, dass dem, in Nienhagen ansässigen II. Bataillon, für den 17. Dezember 1944 das Schießen mit scharfer Munition zwischen 8:00 und 12:00 Uhr, mit Karabiner Modell 98, in der Schießrichtung Langlingen - Groß Eicklingen bzw. Fernhavekost - Wiedenrode genehmigt wurde.[38]
Bild: Schriftwechsel zu Schießübungen des 2. Volkssturmbataillons. Quelle: Archiv Altmann.
Vom 4. Bis zum 11. Februar 1945 fand ein achttägiger Lehrgang für die Unterführer in der Celler Heidekaserne statt.[39] Hierfür wurden aus jeder Kompanie vier Unterführer, d.h. Zug- oder Gruppenführer abgestellt. Vom 24. Februar bis zum 03. März fanden in Celle und Westercelle nochmals Lehrgänge für Führer und Unterführer des Volkssturms im Celler Kreis statt.[40] Vom 11. März bis zum 17. März folgte ein Lehrgang für Unterführer in Bergen. Neben der praktischen Ausbildung wurden vermehrt auch theoretische Schulungen durchgeführt. Thematisch reihten sich diese Schulungen in die nationalsozialistische Propaganda und versuchten dem Kampf des Volksturms eine historisch-ideologische Legitimation zu verschaffen. Beispielsweise ergingen Anfang Februar 1945 Schreiben der Kreisleitung der Celler NSDAP, die den „Bolschewismus“ zum Thema hatten und seine Bekämpfung als „Krieg der Weltanschauungen“ betitelten.[41] Im Kern waren diese propagandistischen Schulungen allerdings stark antisemitisch ausgerichtet.[42]
Mitte Februar 1945 wurden den Volkssturmbataillonen jeweils Bataillonsärzte zugeteilt.[43] Die vierzehn Celler Volkssturmbataillone waren außerdem Anfang 1945 um Alarmkompanien z.b.V.[44] ergänzt worden. Mit Volkssturmbefehl 23/45 wurden im Kreisgebiet „für einen etwaigen Soforteinsatz“ wurden in Unterlüß und Belsen zwei weitere Alarmkompanien aufgestellt.[45] Diese sollten möglichst rasch mit Waffen und Ausrüstung versorgt werden. Allerdings zeigten bereits im Zeitpunkt der Aufstellung eklatante Mängel.
Jeder Volkssturmführer hatte mithilfe der Partei-Organisation der NSDAP in seinem Zuständigkeitsbereich alle brauchbaren Waffen mit dazugehöriger Munition für die Alarmeinheiten zu beschaffen.[46] Dies umfasste unter anderem auch die vorhandenen Jagdwaffen. Hierzu schrieb Volkssturmbefehl 23/45 vor: „Wo Jäger auch unter Belehrung über die vaterländische Pflicht zur Hergabe ihrer Waffen nicht zu bewegen sein sollten, wird die Beschlagnahme durch den Oberbürgermeister bzw. Landrat erwirkt werden. Solche Fälle sind sofort zwecks Erlangung der Beschlagnahme-Verfügung zu melden.“
Bild: Auszug Volkssturmbefehl 23/45. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 86. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Ab Anfang Februar 1945 wurden Soldaten der Celler Volkssturmbataillone zur Ablösung von Landesschützen als Wachmänner bei Arbeitskommandos Kriegsgefangener eingesetzt. Ihre Hauptaufgaben lagen darin, die Kriegsgefangenen zu kontrollieren – insbesondere bei Arbeitsbeginn und –ende sowie mehrmals in der Nacht.[47] Durch die Ablösungen sollten zusätzliche Kapazitäten für die kämpfende Truppe freigemacht werden.
Bild: Schreiben der NSDAP Kreisleitung Celle zur Ablösung von Landesschützen durch Volkssturmmänner. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 81. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Auffallend ist, wie bürokratisch die Aufstellung des Volkssturmes vonstatten ging. Trotz des vorangeschrittenen Kriegsverlaufes ergingen noch zahlreiche allgemeine Anweisungen und Verlautbarungen zu Fragen der Besoldung der Volkssturmsoldaten (1 RM pro Tag), Fürsorge und Versorgung in Krankheitsfällen – bis hin zur künstlerischen Gestaltung der Ortsgruppenfahnen.
Einen knappen Monat vor Eintreffen der Alliierten wurde eine vorherige Anordnung für den Volkssturm im Celler Kreis, die zunächst eine Heranziehung zum Bau von Panzersperren vorsah, kurzfristig wieder zurückgenommen.[48] Dies geschah offenbar auf Anweisung von Wehrmachtsdienststellen und offenbarte ein Problem, dass sich in den folgenden Tagen verstärkt in den Schriftwechseln niederschlug. Der Mitte März 1945 ergangene Volkssturmbefehl 31/45 belegt, dass die Zuständigkeiten und Aufgaben innerhalb des Volkssturms allmählich von der militärischen Realität eingeholt wurden. Laut dem Befehl vom 17. März 1945 wurden die „Einsatzmöglichkeiten des Volkssturms“ neu definiert – dreieinhalb Wochen vor Kriegsende.[49]
Auf Weisung des Leiters der Parteikanzlei, Martin Bormann, erging die schriftliche Klarstellung, dass der Volkssturm nur bei „größter Gefahr für das Heimatgebiet“ eingesetzt werden sollte – die Bewachung von Kriegsgefangenen dagegen sei zu unterlassen, so der Befehl. Mit Blick auf den möglichen „Kampfeinsatz des Volkssturms durch Wehrmachtsdienststellen“ wurde laut Befehl festgehalten, dass nach einer Vereinbarung zwischen Martin Bormann und dem Reichsführer SS, Heinrich Himmler, nur die Gauleiter über den Kampfeinsatz zu entscheiden hätten.[50] Sicherlich ging es hierbei weniger um die Frage einer möglichst effizienten militärischen Verteidigung – für Bormann und Himmler stand vielmehr die persönliche Machtsicherung im Fokus. Vor diesem Hintergrund sollte die Wehrmacht auch nur im Falle vorheriger Abstimmung auf Volkssturmsoldaten zurückgreifen.
Bild: Auszug Volkssturmbefehl 31/45. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 21. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Trotz der Unstimmigkeiten zwischen Wehrmachtsführung, SS Führung und Parteikanzlei kam es im Kreis Celle zu Abstimmungen zwischen Volkssturm und Wehrmachtsführung. Am 29. März 1945 – keine Zwei Wochen vor Kriegsende – berichtete der Bataillonsführer Guse aus Unterlüß über die Erkundung und Vorbereitung von Panzersperren.[51]
Rund um Unterlüß wurden demnach mögliche Standorte erkundet – in Abstimmung mit dem Wehrmachtsstandortältesten in Celle, Generalmajor Tzschöckell wurde das Werksgelände der Rheinmetall-Borsig AG als „Kernwerk“ bei der Verteidigung des Ortes bestimmt.[52] Zusätzlich sollten Sperren durch das Fällen von straßennahen Bäumen hergestellt werden, bei Lutterloh sollte ein Verteidigungsnest in Zugstärke eingerichtet werden. Die ausgewählten Stellungen sollten als Gruppennester besetzt und je nach Bedarf mit Panzerfäusten ausgestattet werden.
Bild: Schreiben des Volkssturmbataillons 24/29 (Unterlüß) an die NSDAP Kreisleitung Celle. Quelle: NLA Hannover Hann. 310 Nr. 326, Blatt 3. Das Archivgut ist Eigentum des Niedersächsischen Landesarchivs. Ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Niedersächsischen Landesarchivs darf diese Abbildung nicht gespeichert, reproduziert, archiviert, dupliziert, kopiert, verändert oder auf andere Weise genutzt werden.
Es waren die Bilder der nationalsozialistischen Propaganda, die dafür sorgten, dass der Volkssturm von Seiten der Alliierten zunächst als durchaus ernste Bedrohung eingestuft wurde. In internen Handreichungen der US Truppen wurde der Volkssturm als äußerst gefährlich eingeschätzt – „Menschen die ihre Heimat unter solchen Bedingungen verteidigen, sind in der Lage eine sehr gezielte Verteidigung aufzubauen (...)“, heißt es im US Intelligence Bulletin des Monats Februar 1945.[53] Zu diesem Zeitpunkt fehlte den US Truppen noch die eingehende Erfahrung mit dieser potentiellen Bedrohung.
Bild: Bericht zum Volkssturm in zeitgenössischen US-Quellen. Quelle: US Intelligence Bulletin Vol. III, 1945.
Die mögliche Gefahr durch einen wehrhaften Volkssturm wurde jedoch schon bald von der militärischen Wirklichkeit eingeholt. Was sich tatsächlich bei Eintreffen der US Truppen bzw. der britischen Streitkräfte ereignete, ist in keinem offiziellen Schriftwechseln festgehalten worden. Häufig sind daher die Berichte von Zeitzeugen die einzig verfügbaren Quellen, die noch über den tatsächlichen Einsatz der Volkssturmeinheiten berichten.
Aus Adelheiddorf berichtete der Dorfschullehrer Alfred Schlüter nach Kriegsende, dass zum Volkssturm aufgerufen worden war – aber die meisten seien nicht hingegangen, weil sie fanden, dass sie ihren Häusern und Höfen besser mutzen konnten.[54] Schlüter führte aus: „Die Brücken sollten gesprengt werden. Aber der Volkssturm tat es nicht.“
In Wathlingen sollte der Volkssturm ebenfalls noch zum Einsatz kommen. Rektor Schröder und Lehrer Seffer erzählten hiervon im Gespräch mit Hanna Fueß nach Kriegsende wie folgt: „Er (Anm.: der Volkssturm) sollte das Dorf verteidigen und die Fuhsebrücke auf die Eisenbahnbrücke sprengen. Zuerst musste der Volkssturm die Brücken bewachen aber es war so, dass zum Volkssturmführer gesagt wurde: „Die stell da man hin, dann geht die Brücke bestimmt nicht in die Luft!“ Das hat die Wehrmacht aus herausgekriegt. Die letzten Tage übernahm die Wehrmacht die Brückenwache.“[55] Die Brücken bei Wathlingen wurden schließlich durch die Wehrmacht gesprengt. Seffer war selber Zugführer des Volkssturms in Wathlingen[56] und wurde nach Eintreffen der US Truppen zum Verhör mitgenommen.
In Eicklingen hielt sich nach Kriegsende das Gerücht, der Volkssturm habe Brückensprengungen sogar aktiv verhindert.[57]
In Bröckel erzählte Pastor Gellermann im Gespräch mit Hanna Fueß über das Auftreten des Volkssturmes wie folgt: „Einige Tage vorher haben wir in Bröckel Panzersperren durch den Volkssturm gebaut. Sie wurden außerhalb des Dorfes errichtet, wurden aber nur halb fertig. Wir sind dann einfach nach Hause gegangen.“[58]
Lehrer Müller aus Lachendorf in seinem Tagebuch fest: „3. April: Vom Volkssturm aus haben wir oft Brückenwache. Oft wissen wir nicht, was wir (tun) sollen. Soldaten und Zivilisten müssen wir anhalten, ob sie keine Deserteure sind. Und dann arbeiten die Volkssturmmänner an allen drei Brücken und bereiten sie zur Sprengung vor. (...). 9. April: Nachts stehen wir Wache an den Brücken und müssen, wenn Befehl von Celle kommt, (...), die Brücken sprengen.“[59] Die Blaue Brücke[60] in der Sprache wurde schließlich am 12. April 1945 noch durch die Wehrmacht gesprengt[61] – von den verlegten Fliegerbomben explodierte jedoch nur eine, sodass nur eine Hälfte der Brücke beschädigt wurde und diese auf der anderen Seite noch befahrbar war.[62]
Bild: Bedienungsanleitung einer Panzerfaust 60. Quelle: Cellesche Zeitung vom 04.04.1945.
Für den Ort Lachtehausen war der Celler Volkssturm zuständig. Wie sich der Lachtehäuser Müller Walther Fricke im Gespräch mit Hanna Fueß nach Kriegsende erinnerte, hatte die der dortige Volkssturm „sein Arsenal in der Metallwarenfabrik“.[63] Hierbei handelte es sich um die Metallwaren Altona-Celle AG, die ihren Firmensitz damals in der Wittinger Straße Nr. 98 hatte. Ein paar Nächte „ehe der Feind kam“ versenkte der Volkssturm seine Waffen in der Aller, erinnerte sich Fricke nach Kriegsende.[64]
Vielerorts finden sich überhaupt keine Hinweise in Zeitzeugenberichten, die eine militärische Präsenz des Volkssturmes belegen. Ein ernstzunehmendes Eingreifen konnte wohl auch weder erwartet noch geleistet werden. Die Einheiten des Celler Volkssturmes waren schlecht bis überhaupt nicht ausgebildet, ihre Bewaffnung war für den Kampfeinsatz unzureichend und sie verfügten teilweise nur über notdürftige zusammengestellte Ausrüstungsgegenstände sowie eine unvollständige Uniformierung – ja, sogar die einheitlichen Volkssturmarmbinden waren auch noch vier Monate nach Gründung nicht verfügbar.[65]
Es waren wohl unterschiedliche Gründe dafür verantwortlich, dass der Volkssturm im Raum Celle nicht mehr wie eigentlich geplant eingesetzt worden ist. Ein maßgeblicher Grund hierfür lag in der Machtverschiebung zwischen Wehrmachtsführung, SS und Partei-Kanzlei. Die Reibereien führten letztlich dazu, dass die Aufgaben und Zuständigkeiten trotz ausufernder Bürokratie bis zuletzt nicht effizient organisiert werden konnten.
Im Raum Celle kam hinzu, dass die Volkssturmsoldaten in den allermeisten Fällen nicht direkt zur Landesverteidigung eingesetzt wurden. Regelmäßig waren sie mit der Bewachung Kriegsgefangener beauftragt, als Brückenwachen und Sprengkommandos abgestellt oder verrichteten Schanzarbeiten. Zwar stand der Volkssturm theoretisch gesehen unter Waffen – praktisch betrachtet war diese Bewaffnung für den Kriegseinsatz aber nur eingeschränkt geeignet. Der Einsatz von Jagdgewehren gegen halb- und vollautomatische Kriegswaffen der herannahenden alliierten Truppen verdeutlicht dies.
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