f Bergen. Endstation Bahnhofsrampe. ~ Heimatforschung im Landkreis Celle

Donnerstag, 16. Februar 2023

Bergen. Endstation Bahnhofsrampe.


Für tausende Häftlinge war sie der erste Berührungspunkt mit dem Konzentrationslager Bergen-Belsen: die Rampe des ehemaligen Truppenlagers Bergen. Dieser und angrenzende Bereiche sind heute ein Gedenkort und darüber hinaus ein eingetragenes Baudenkmal. Wird das historische Areal von einem Neubauprojekt der Deutschen Bahn bedroht?

Als der Flight Officer D. Pollard am Morgen des 17. September 1944 in seiner Supermarine Spitfire vom Flugplatz der Royal Air Force in Benson (England) abhob, ahnte er vermutlich nicht, dass ihn seine Mission in unmittelbare Nähe eines der größten deutschen Konzentrationslager führte. Ausgestattet war sein Flugzeug mit hochauflösenden Kameras – seine Aufgabe bestand an jenem Tag darin Luftaufnahmen zu Aufklärungszwecken zu machen. In mehreren Schleifen überflog Pollard den Truppenübungsplatz Bergen und schoss dabei unter anderem Aufnahmen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen sowie dessen angrenzenden Bereichen.

Die Landschaft auf den historischen Schwarzweißaufnahmen wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Schmale Wiesen- und Ackerstücke sowie vereinzelte Waldflächen dominieren. Die militärischen Einrichtungen des Truppenlagers Bergen ziehen mit einer Fülle von Kasernen, Hallen, Nebengebäuden und sonstigen Baulichkeiten jedoch unmittelbar den Fokus auf sich. Im Süden davon erkennbar: die Barackengebäude des Konzentrationslagers. 

Fast beiläufig dokumentieren die Luftaufnahmen nordwestlich der Ortschaft Belsen den Lagerbahnhof des Truppenlagers Bergen. Zu erkennen sind die große Verladerampe, mehrere parallel verlaufende Gleisstränge, das Stellwerk nebst benachbarter Drehscheibe sowie der noch heute vorhandene Wasserturm. Auf den Luftaufnahmen vom 17. September 1944 kann ebenfalls ein abgestellter Zug, bestehend aus mindestens zwölf Waggons, identifiziert werden. Auf den Dächern der Waggons wurden gut sichtbare Kreuze (verm. in der Farbe Rot) auf weißem Untergrund aufgemalt. Es liegt nahe, dass es sich um einen Lazarettzug gehandelt haben könnte.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Mit der Errichtung des Truppenübungsplatzes, der zunehmenden militärischen Nutzung des Areals und schließlich mit der Einrichtung des Konzentrationslagers legte sich der Deckmantel des Schweigens über die Landschaft. Über Züge die auf dem Lagerbahnhof eintrafen und deren Insassen liegen somit nur sehr spärliche Informationen vor. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch die Darstellung des ehemaligen Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und langjährigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Erhard Eppler. Als 18 jähriger Soldat war er in den letzten Kriegsmonaten zeitweise auf dem Truppenübungsplatz Bergen stationiert.

In Interviews gegenüber dem Spiegel (16.11.1983) und der Süddeutschen Zeitung (21.04.1985) beschrieb Eppler seine Erlebnisse. In seiner Darstellung erreichten ununterbrochen Lazarettzüge den Verladebahnhof Bergen – fast täglich wurden Teile seiner Kompanie abkommandiert, um Verwundete auszuladen. Dabei erlebte Eppler unbeschreibliches Elend – in den Zügen hatten „erbarmungslos zusammengeschossene Menschenleiber tagelang in Eiter, Blut, Speichel und Exkrementen zusammengepfercht gelegen.“ (Eppler, SZ, 21.04.1985). 

Viel schrecklicher empfand er jedoch die Zugtransporte, die für das KZ Bergen-Belsen bestimmt waren und die er und seine Kameraden beim Entladen der Lazarettzüge mit ansahen. Bei einer dieser Situationen trieb die SS – vermutlich ungarische – Jüdinnen mit der Peitsche aus den Güterwagen und weiter ins Konzentrationslager, so Eppler. Tote und Sterbende wurden gleichermaßen auf Lastwagen geworfen und abgefahren.

Bild: Karte des Lagerbahnhofs Bergen um 1938. Quelle: Topografische Karte, Reichsamt für Landesaufnahme, 1938.

Während über die Verwendung der Verladerampe auf dem Lagerbahnhof Bergen zur Be- und Entladung von KZ-Transporten mehrere Zeitzeugenberichte vorliegen, hält sich die Quellenlage mit Blick auf die ursprünglichen Nutzungszusammenhänge des Lagerbahnhofs bedeckt. Dies überrascht wenig, da die Rampe zunächst für die Verladung größerer Truppenkontingente errichtet worden war – also Vorgänge, die strengster Geheimhaltung unterlagen. 

Die baugeschichtlichen Zusammenhänge der Rampe sind daher nur fragmentarisch überliefert. Fest steht, dass der Truppenübungsplatz ab Mitte 1936 mit militärischen Einheiten belegt wurde – auf einem erhalten gebliebenen Gleisstrang ist zudem die Jahreszahl 1936 eingeprägt. In historischen Karten des Reichsamtes für Landesaufnahme in Berlin aus dem Jahr 1938 taucht der ausgebaute Lagerbahnhof bereits in voller Ausdehnung auf.

Bild: Zwei Soldaten der Wehrmacht - im Hintergrund der noch nicht vollständig fertiggestellte Lagerbahnhof Bergen - Ende der 1930er Jahre. Quelle: Archiv Altmann. 

Fotos, die gegen Ende der 1930er Jahre aufgenommen worden sind, zeigen den Lagerbahnhof noch ohne Kopfsteinpflaster. Wann und von welchen Arbeitskräften dieses verlegt worden ist, ist nicht bekannt. Im westlichen Bereich des Lagerbahnhofs waren die Gleise über mehrere Meter mit Holzbohlen ausgelegt, sodass Fahrzeuge auf die langgezogene Seitenrampe fahren konnten. Erst im Zuge einer Umbaumaßnahme im Jahr 2001 wurde ein Teil des Lagerbahnhofs zu einer Kopframpe umgestaltet – offenbar in Unkenntnis darüber, dass der Bereich bereits unter Denkmalschutz stand, wie die CZ am 21. September 2001 berichtete.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe nach Umbaumaßnahmen. Quelle: Altmann, 2022. 

Zu beachten ist, dass der Lagerbahnhof ursprünglich ausschließlich für die Verladung von Truppen, Fahrzeugen und militärischer Ausrüstung vorgesehen war. Später wurde diese Einrichtung dann genutzt, um Kriegsgefangene - zunächst französische und belgische, später dann tausende sowjetische - nach Bergen-Belsen zu transportieren. 

Für die Versorgung des Truppenlagers Bergen existierten gesonderte Gleisstränge, die sich westlich des Lagerbahnhofs anschlossen. In diesem Bereich – östlich der Straßenbrücke der heutigen L298 – befanden sich im Herbst 1944 mindestens zwei größere Gebäude noch im Aufbau, wie historische Luftaufnahmen belegen. 

Informationen zum Verwendungszweck dieser Gebäude liegen bislang nicht vor – im Gelände lassen sich dort nur noch vereinzelt Relikte feststellen. Es liegt jedoch nahe, dass diese Gebäude in unmittelbarem Zusammenhang zum Lagerbahnhof bzw. dem benachbarten Gleiskörper gestanden haben – später befand sich in diesem Bereich offenbar eine Gleiswaage. 

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

In westlicher Richtung hinter dieser teilten sich die Gleise – entsprechend der Einrichtungen, die sie versorgten – in das sogenannte Benzin-, Bäckerei-, Scheunen-, Kohlen- und Wäscherei-Gleis. Dies ist bemerkenswert, da für die erforderlichen Versorgungseinrichtungen des Standortes zusätzliche Gleisverbindungen bereits bei Errichtung des Lagerbahnhofs berücksichtigt worden waren – eine Gleisverbindung zum KZ Bergen-Belsen bestand jedoch nicht. Aus diesem Grund mussten die Häftlinge die Strecke von ca. 6,0 km zwischen Lagerbahnhof und Konzentrationslager zu Fuß bewältigen.

Bild: Relikte von ehemaligen Gebäuden, die in den Monaten vor Kriegsende westlich der L298 errichtet worden sind. Auf dem Abflussrohr ist eingeprägt "Steingutwerk Hermühlheim Deutschland". Quelle: Altmann, 2022. 

Als andere Konzentrationslager durch den raschen Vormarsch der Alliierten Streitkräfte im Osten und Westen zunehmend drohten aus dem eigenen Einflussbereich zu entgleiten, wurden die dort untergebrachten Häftlinge evakuiert. Zahlreiche dieser – teils als Fußmärsche und/oder als Bahntransporte – durchgeführten Evakuierungen entwickelten sich aufgrund völlig unzureichender Versorgung, mangelhafter Transportbedingungen und falsch eingeschätzter Transportzeiten unweigerlich zu sogenannten Todesmärschen. 

Im täglich schrumpfenden Einflussbereich der deutschen Verteidigungskräfte blieb das KZ Bergen-Belsen als eines der möglichen Ziele derartiger Transporte. Die rasch ansteigende Zahl der Häftlinge, Unterversorgung in jedweder Hinsicht und die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten trugen maßgeblich zur hohen Sterblichkeit in der Endphase des Zweiten Weltkriegs bei. Der Lagerbahnhof weist daher eine besondere historische Bedeutung auf – ohne diese logistische Infrastrukturanlage wäre die Verlegung großer Häftlingstransporte aus weit entfernten Konzentrationslagern undenkbar gewesen.

Bild: Gedenkstein am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

In der unmittelbaren Endphase des Zweiten Weltkriegs kam dem Lagerbahnhof nochmals tragische Bedeutung zu. Etwa 6.700 Häftlinge sollten zwischen dem 6. und 10. April 1945 in drei Bahntransporten aus dem Aufenthaltslager Bergen-Belsen evakuiert werden. Nur einer dieser Züge erreichte Theresienstadt – die anderen beiden wurden bei Tröbitz bzw. bei Farsleben von sowjetischen bzw. US Truppen befreit.

Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen e.V. (AG Bergen-Belsen) wurde die Verladerampe sowie angrenzende Bereiche des Lagerbahnhofs bereits vor rund 20 Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Die Verladerampe sowie deren angrenzende Bereiche sind heute eingetragene Kulturdenkmale. 

Unter großem Einsatz der AG Bergen-Belsen – und insbesondere der Vorsitzenden Elke von Meding – wurde der Gedenkort an der ehemaligen Verladerampe realisiert. Informationstafeln und ein alter Güterwagen untermauern die historische Kulisse am Gedenkort, an dem seit mehreren Jahren regelmäßige Gedenkveranstaltungen, wie z.B. „Lichter auf Schienen“, stattfinden.

Bild: Gedenkort "Waggon" an der Verladerampe. Quelle: Altmann, 2022. 

Im Rahmen des Bahnprojektes Hamburg/Bremen-Hannover wurde im „Dialogforum Schiene Nord“ Vorschläge für einen Aus- bzw. Neubau entsprechender Bahnstrecken erarbeitet – u.a. im Abschnitt zwischen Hamburg und Hannover. Die weiterentwickelte Lösung des sogenannten optimierten Alpha-E plus Bremen ging schließlich in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans ein – es begannen entsprechende Vorplanungen und Prüfungen möglicher bestandsnaher sowie bestandsferner Aus- bzw. Neubaustrecken. 

Vor diesem Hintergrund wurden bislang mittels Raumwiderstandsanalysen sogenannte Grobkorridore für die baulichen Aus-/neubaumaßnahmen gesucht – mit dem Ziel eine rechtssichere und abwägungsfreie Vorzugsvariante zu ermitteln, die letztlich Gegenstand der Parlamentarischen Befassung werden.

Bild: Schilder am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

Eine der als bestandsfern ermittelten Grundvarianten sieht den Neubau eines Streckenverlaufs von Celle über Bergen und weiter nach Norden vor. Während auf einer Dialogveranstaltung am 19. September 2022 in Celle noch keine Pläne der möglichen Streckenverläufe im Bereich von Bergen vorgestellt worden sind, äußerten sich die Planer der Bahn am 30. November 2022 im Rahmen der sogenannten Projektwerkstatt laut Presseberichten hierzu erstmals konkret. Demnach führt die Strecke über die Landstraße 298 – genau dort, wo sich der gepflasterte Knick zur Verladerampe befindet. 

Inzwischen sind detaillierte Pläne zum möglichen Streckenverlauf im Internet abrufbar. Medienberichten zufolge soll die Neubaustrecke nach aktuellem Stand angeblich favorisiert werden. 

Bild: Zufahrt zum Lagerbahnhof Bergen und der Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Die Neubaustrecke könnte den denkmalrechtlich geschützten Bereich des Lagerbahnhofs sowie dessen angrenzende Areale unmittelbar betreffen. Hiervon wäre ein außerordentlich sensibler Erinnerungsort in seiner Eigenschaft massiv beeinträchtigt. Grundsätzlich erscheint kaum vorstellbar, dass für einen  historisch derart vorbelasteten Bereich ein so gravierender Eingriff überhaupt ernsthaft erwogen wird. 

Immerhin wäre es völlig absurd, wenn ausgerechnet ein Ort, an dem die Relevanz von Eisenbahninfrastruktur für den Holocaust bis heute offensichtlich wird, seine rechtmäßige Eigenschaft als Mahnmal und Gedenkort in Teilen ausgerechnet wegen neuerer Eisenbahninfrastruktur einbüßen müsste. 

H. Altmann

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Stand: 02/2023




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