f Was geschah im tauben Tal? ~ Heimatforschung im Landkreis Celle

Dienstag, 11. Oktober 2022

Was geschah im tauben Tal?


In Karten ist es nicht verzeichnet. Düstere Legenden ranken sich um seine Geschichte. Das "taube Tal" ist demnach kein Ort der zum Verweilen einlädt. 

Der Dichter Hermann Löns empfand die Landschaft der Fahlen Heide zwischen Gifhorn und Leiferde dagegen offenbar alles andere als abschreckend. Ansonsten hätte er sich dort wohl kaum ab 1904 in gewisser Regelmäßigkeit für Natur- und Jagdbeobachtungen aufgehalten. Im Werk "Haidbilder" erwähnt Löns das sogenannte "taube Tal" - einen verwunschenen Ort, der sich seiner Darstellung nach gar nicht weit vor den grünen Wiesen der Aller (...) unweit des Dorfes Winkel zwischen Gifhorn und Brenneckenbrück befindet

Löns beschreibt das taube Tal als einen trostlosen Ort. Weder Heide noch Bäume halten den Sandboden fest. Alle Bemühungen dort etwas zu anzupflanzen seien gescheitert, so Löns. "Denn das Tal ist verflucht für immerdar, weil unschuldiges Blut dort floss." In seinem 1913 erschienenen Buch unterstreicht Löns dies durch verschiedene Geschichten, die sich im tauben Tal zugetragen haben sollen. 

Ein Wilderer soll dort eine unheimliche Begegnung mit einem weißen Rehbock gehabt haben. Ein Gelehrter - dem Anschein nach ein Archäologe - war mit Ausgrabungen im tauben Tal beschäftigt, als plötzlich ein "uralter und in Lumpen gehüllter Mann" auftauchte. Wanderer, die sich dort Nachts verlaufen hatten, sollen von dämonischen Wesen und gruseligen Erlebnissen berichtet haben, so Löns.  

Bild: Informationstafel bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Neben diesen düsteren und unheimlichen Berichten, findet Löns in seiner Erzählung zum tauben Tal eine mögliche Erklärung für den Fluch, der seiner Darstellung zufolge auf dem Tal lastet. 

"In dem tauben Tale hat einst ein Bauernhof gestanden. Als im dreißigjährigen Krieg die  Kaiserlichen in der Gegend raubten und brannten, fanden sie zu dem Hofe, der gut versteckt lag, nicht hin, bis er ihnen von einem Knecht verraten wurde, der dort im Dienst war und von der Haustochter abgewiesen war. Die Soldaten brachten alles um, was auf dem Hofe lebte, pochten ihn aus und steckten ihn an. Als der Knecht aber seinen Lohn haben wollte, lachten sie ihn aus und gaben ihm einen alten Strick. Da seine Meintat sich in der Gegend herumgesprochen hatte, wollte ihn kein Mensch wieder in Dienst nehmen und so ging er unter die Soldaten. Nach vielen Jahren kam er als Krüppel wieder, bettelte eine Zeit lang in Gifhorn herum, bis sich herausstellte, wer er war und der Büttel ihn aus dem Tore wies. Da ging er nach dem abgebrannten Hofe und ertränkte sich in dem See, der dicht dabei liegt.

Seitdem liegt der Ort wüst. Der Wind hat den losen Sand über die Stätte geweht und ihn so aufgetürmt, dass er wie lauter Grabhügel aussieht. Rundherum wuchert die Heide, grünen die Wiesen, stehen die Fuhren im dichten Moose. Die Stelle aber, auf der der Hof lag, bleibt taub und tot. 

Wer Abends dort vorüber geht und sieht in die Öde hinein, dem friert das Herz, auch wenn er nicht weiß, was sich dort zugetragen hat." (Quelle: Löns, Das taube Tal, in Löns, Haidbilder, 1913, S. 122.)
 
Bild: Fahle Heide bei Gifhorn. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Zunächst einmal überrascht es, wie detailliert Löns die historischen Zusammenhänge schildert - fast als wäre er selber dabei gewesen. So mag aus heutiger Sicht unvermittelt der Eindruck entstehen, dass die Erzählungen um das taube Tal vollständig erdacht sein müssen. Sicherlich mag die Geschichte früher noch größeren Eindruck auf den Leser gemacht haben - dennoch lassen sich bis heute realistische Elemente in seiner Darstellung zum tauben Tal feststellen. 

Die Landschaft zwischen Brenneckenbrück, Winkel und Gifhorn ist außergewöhnlich und sehr abwechslungsreich. Hier erstreckt sich die "Fahle Heide" - das Gelände ist hügelig und dort, wo kein Oberflächenbewuchs existiert, klaffen gelegentlich sandige Stellen hervor. In direkter Nachbarschaft befinden sich Wälder und moorastige Stellen - die örtliche Fauna präsentiert hier zweifelsohne ein sehr breites Spektrum. Für jene Vielseitigkeit der Natur lieferte Löns offenbar die einfache Erklärung, dass es dort nicht mit rechten Dingen zugehen kann. 

Bild: unzugängliche Moore bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Nicht zu bestreiten ist, dass die Umgebung und das Wetter stets eine gewisse Wirkung auf Menschen entfalten. An einem hellen, aufgelockerten Tag mag die Landschaft nördlich von Winkel vergleichsweise unauffällig wirken. In der düsteren Jahreszeit - vielleicht bei Nebel oder an regnerischen Tagen - verändert sich die Wirkung aber sicherlich. Löns scheint hierauf ebenfalls anzuspielen, denn die unheimlichen Begebenheiten treten stets zu bestimmten Tageszeiten auf. 

Bild: düstere Stimmung in der Heide bei Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Eine Überprüfung der Erzählungen wird allerdings alleine schon deswegen erschwert, weil der genaue Standort des tauben Tals nicht bekannt ist. Er lässt sich allenfalls vage eingrenzen. Archäologische Belege, die die Darstellung stützen könnten, liegen nicht vor. Gleichwohl blickt die Gegend zwischen Winkel und Gifhorn durchaus auf eine abwechslungsreiche Geschichte zurück - auch, wenn der Ort Winkel selbst noch gar nicht so alt ist. Er entstand als eine Kolonistensiedlung im 18. Jahrhundert. 

In direkter Nähe zu dem Bereich, den man heute als taubes Tal annimmt, existierten allerdings mehrere historische Orte. Hierzu gehört unter anderem eine mögliche mittelalterliche Wallanlage, die bis heute gut im Gelände zu erkennen ist. Den frei zugänglichen Informationen im Niedersächsischen Denkmalatlas ist zu entnehmen, dass es sich um eine kleine viereckige Burganlage mit einer Innenfläche von ca. 660 m² handelt. Wem diese Burg zuzuordnen ist, wann sie bewohnt oder verlassen wurde und welchem Zweck sie diente, ist nicht bekannt. Schriftquellen zu der Burg liegen bislang nicht vor. 

Unweit des vermeintlichen tauben Tals steht ein massiver Findling vor einer 1,20 m dicken Eiche. "Schindereiche" heißt es auf dem Stein. Der Baum wächst möglicherweise an der Stelle, die einst als Schinderanger diente und auf die man eingegangene und verendete Tiere brachte. Heute würde man dies als Abdeckerei bezeichnen. 

Bild: Schindereiche nordöstlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

Historischen Karten ist zu entnehmen, dass sich die Landschaft im Bereich des tauben Tals über die Jahrhunderte stark verändert hat. Einst befand sich in dieser Gegend der sogenannte "Hehlen Teich" - in Karten, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts erstellt wurden, ist der ausgedehnte Hehlen Teich noch verzeichnet. In einer Karte vom Lauf der Aller und Umgebung von Gifhorn über Müden bis Flettmar und Nienhof ist der Teich bereits als "abgelassen" bezeichnet worden - offenbar erfolgte ein Durchstich vom südlich verlaufenden Allerkanal durch den Hehlen Teich bis in die nördlich verlaufende Aller. 

Im Ergebnis fiel der Hehlen Teich trocken - heute wird die so gewonnene Fläche als Weideland genutzt. Durch den Ausbau des Allerkanals wurde die sumpfige Umgebung zusätzlich entwässert. 

Bild: Ausschnitt aus der Karte vom Lauf der Aller und Umgebung von Gifhorn über Müden bis Flettmar und Nienhof vom 1823. Quelle: Digitalisate von NLA HA Kartensammlung Nr. 31 f/53 pg (Kennzeichnung als Public Domain)

Charakteristisch für das Naturschutzgebiet "Fahle Heide" sind nicht nur die Heideflächen. Prägend sind auch die hier stellenweise noch häufig vorhandenen Schlatts (niederdeutsch "slat" = moorige Vertiefung in der Heide) - so heißt es auf einem örtlichen Hinweisschild. 

Tatsächlich scheint eben dieses besondere Landschaftsbild unmittelbar mit den Erzählungen zum tauben Tal zusammenzuhängen. 

Bild: moorige Flächen nördlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022. 

An historischen Orten im Bereich des vermuteten Standortes des tauben Tals mangelt es also nicht. Die Gegensätze in der Landschaft dürften vor den weitreichenden menschlichen Eingriffen noch deutlicher gewesen sein. Das ursprüngliche Landschaftsbild ist heute nur noch in wenigen Teilen erhalten. 

Hermann Löns hielt seine Eindrücke und die Geschichten um das taube Tal literarisch fest - allerdings ohne weitere Quellen zu benennen. Die Darstellung, dass im tauben Tal früher ein Hof existierte, lässt sich weder anhand urkundlicher Aufzeichnungen - noch anhand archäologischer Funde belegen. 

Bild: Heideflächen nördlich von Winkel. Quelle: H. Altmann, 2022.

Unter dem Strich gibt es - mit Ausnahme der Erzählung von Löns - heute keine besonderen Anzeichen dafür, dass sich in dieser Gegend irgendwelche übernatürlichen Dinge manifestieren. Es mag natürlich auch immer etwas davon abhängen, wie empfänglich man für so etwas ist. 

Nichtsdestotrotz hat die Landschaft vor Ort einen besonderen Charme. Kommt das passende Wetter hinzu so mag die Umgebung, in der man heute das taube Tal vermutet, vielleicht sogar etwas gruseliger wirken als andere Orte. 

H. Altmann

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Stand: 10/2022


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