f Heimatforschung im Landkreis Celle

Samstag, 23. Dezember 2023

Abenteuerliche Suche nach der Wüstung Bagehorn im Lüßwald


Historische Karten belegen, dass die Landschaft zwischen Eschede und Hösseringen in den letzten Jahrhunderten nur spärlich besiedelt war. Für ältere Zeiten fehlen schriftliche Belege für weitere Siedlungen ebenso. Dennoch wurde die Annahme begründet, dass sich in diesem Bereich einst die ehemalige Siedlung „Bagehorn“ befunden haben könnte. Eine Zusammenfassung und aktuelle Forschungsansätze.

In Hinblick auf Dorfwüstungen, also aufgegebene Siedlungen, schwingt häufig eine gewisse Schwere der Geschichte mit. Was mag die Bewohner im Einzelfall zu ihrer Aufgabe bewogen haben? Welche Schicksale mögen sich zugetragen haben? Kriege, Krankheiten, wirtschaftliche Faktoren und weitere Einflüsse werden regelmäßig als Ursachen für die Entstehung von Wüstungen benannt. In einigen Fällen dürften die Hintergründe allerdings durchaus weniger tragisch gewesen sein – gelegentlich führten familiäre Umstände oder die einsetzende Fluktuation in Städte dazu, dass alte Siedlungen und insbesondere einzelne Hofstellen aufgegeben wurden und „wüst“ fielen.

Je nach Zeitstellung und Umständen der historischen Begebenheiten kann es aus heutiger Sicht mitunter Schwierigkeiten bereiten, die genauen Standorte ehemaliger Siedlungsorte zu ermitteln. Die Anzahl der bekannten und lokalisierbaren Ortswüstungen im Raum Celle ist überschaubar. Aufhorchen lässt daher ein Beitrag des Lehrers und ehemaligen Rektors der Celler Mittelschule, Friedrich Barenscheer, der am 19. April 1972 im Sachsenspiegel in der Celleschen Zeitung erschien. Barenscheer berichtete darin von den Nachforschungen zu der Wüstung Bagehorn im Lüßwald bei Unterlüß.

Bild: Beitrag im Sachsenspiegel. Quelle: Barenscheer, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1979.

Die Geschichte begann mit einer Anfrage des Alfonso Gall-Bagehorn an die Gemeinde Unterlüß im Oktober 1971. Der damals in Spanien wohnhafte Gall-Bagehorn interessierte sich für die Herkunft seiner Familie mütterlicherseits. In seinen Briefen an den Unterlüßer Bürgermeister und an Friedrich Barenscheer beschrieb er, dass er in den Dreißigerjahren eine Auskunft erhalten habe, wonach sich einst ein Hof Bagehorn im Gebiet von Unterlüß befunden haben soll.[1] 

Alfonso Gall-Bagehorn gab an, diese Information erhalten zu haben, als er Inhaber eines Exportgeschäftes in Hamburg gewesen sei und wie alle Selbstständigen den sogenannten „Ariernachweis“ zu erbringen hatte. Um seinen pflichtgemäßen Abstammungsnachweis entsprechend der nationalsozialistischen Vorgaben zu erbringen, setzte sich Gall-Bagehorn demzufolge intensiv mit seiner Familiengeschichte auseinander.

Wie er in seinen Schreiben angab, nutzte Gall-Bagehorn die damals populäre Tageszeitung „Hamburger Fremdenblatt“ für eine Anfrage nach der Herkunft seines Familiennamens. Die hierauf erteilte Auskunft, dass der Name auf einen ehemaligen Bauernhof im Bereich von Unterlüß zurückzuführen sei, veranlasste ihn, sich hierzu gegen Anfang der Siebzigerjahre vor Ort weitergehende Erkundigungen anzustellen. Insbesondere interessierte er sich dafür, ob evtl. ein alter Flurname auf den Standort des ehemaligen Gehöfts hindeuten würde.

Friedrich Barenscheer hatte sich intensiv mit der regionalen Flurnamenforschung auseinandergesetzt.[2]Er setzte den Familiennamen Bagehorn mit der tradierten Flurbezeichnung Bogenhorn östlich von Unterlüß in Verbindung.[3] Eine Ortsbegehung unter Unterstützung des Oberforstmeisters Bretschneider erbrachte für Barenscheer weitere Anhaltspunkte dafür, dass sich die Wüstung Bagehorn südwestlich der heutigen Siedlung Lünsholz befunden haben müsste. Dort konnten die Ausläufer des trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, eines Vorläufers der Aschau, entdeckt werden. In diesem Bereich verortete Barenscheer schlussendlich die Wüstung Bagehorn. Obwohl er sich durchaus verwundert darüber zeigte, dass bis dahin „heimische Forscher (...) die Wüstung nicht entdeckt“ hätten, konstatierte er, dass „an dem Vorkommen des Hofes Bagehorn kein Zweifel“ bestehen könne. [4]

Bild: bis heute ist das Urstromtal des Drellebachs im Gelände sichtbar. Quelle: H. Altmann, 2023.

In der 1996 erschienenen Gemeindechronik von Unterlüß kam Jürgen Gedicke allerdings zu dem Schluss, dass sich keine hinlänglichen Beweise für eine bäuerliche Siedlung Bagehorn fänden ließen.[5] Er schlussfolgerte stattdessen, dass sich in dem Bereich der vermeintlichen Wüstung – rund vier Kilometer westlich entfernt vom herzoglichen Jagdschloss in Weyhausen – einst eine Hetzschanze und eine Unterkunft für die Treiber aus den umliegenden Dörfern befunden haben könnte. Die Aufgabe der Treiber war es, das Wild in die unmittelbare Nähe der Jagdgesellschaften zu treiben. Gedickes Einschätzung ging vermutlich nicht zuletzt auf die Darstellungen von Paul Paschke zurück, der den Flurnamen Haßloh ebenfalls mit eine solchen jagdlichen Einrichtung in Zusammenhang gesetzt hatte. [6]

Bild: Rubrik "Briefkasten". Quelle: Hamburger Fremdenblatt, Abendausgabe, Jg. 109, Ausgabe 262, 22.09.1937, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky.

Die inzwischen vorliegenden Erkenntnisse belegen, dass die Angaben des Alfonso Gall-Bagehorn als plausibel einzustufen sind. Gall-Bagehorn – mit vollem Namen: Sebastian José Alfonso Gall von Bagehorn – wurde Mitte der Dreißigerjahre Einzelprokura in einem Hamburger Kaufmannsbetrieb eingeräumt.[7] Gall-Bagehorn hatte angegeben die Information zu dem aufgegeben Gehöft bei Unterlüß über den „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts erhalten zu haben. Der „Briefkasten“ war eine fest etablierte Rubrik im Hamburger Fremdenblatt. Abonnenten der Zeitung konnten darin alle möglichen Fragen platzieren, um in den Folgeausgaben hierzu Antworten von der Redaktion zu erhalten.

Es ist festzustellen, dass sich die Anzahl der familiengeschichtlichen Anfragen im „Briefkasten“ des Hamburger Fremdenblatts nach Verabschiedung der sogenannten Nürnberger Rassegesetze[8] ab 1935 merklich steigerten. Allerdings konnte sich Gall-Bagehorn nicht an das genaue Erscheinungsdatum der Auskunft zu seiner Anfrage erinnern – auch Friedrich Barenscheer gelang es nicht, den Verfasser der Information zur Wüstung Bagehorn des „Briefkastens“ ausfindig zu machen. Die Recherchemöglichkeiten haben sich seit 1972 jedoch erheblich verbessert. Inzwischen liegt das Hamburger Fremdenblatt vollständig digitalisiert vor. Trotz der früher verwendeten Frakturschrift ist mit wenigen Eingaben eine Volltextsuche in allen verfügbaren Ausgaben der Zeitung möglich.

Am 22. September 1937 erschien tatsächlich ein Hinweis auf den Ortsnamen Bagehorn im Briefkasten des Hamburger Fremdenblatts. Die damals gestellte Anfrage richtete sich jedoch auf die Bedeutung der Familienname Penzhorn und Misselhorn. Unter Verweis darauf, dass der Name Misselhorn an der Landstraße zwischen Hermannsburg und Unterlüß vertreten ist, wurde ebenfalls der Name Bagehorn als ein Beispiel für einen Familiennamen in der Lüneburger Heide genannt, der aus einem Ortsnamen hervorgegangen sei.[9] 

Sonstige Einträge zu Bagehorn sind in den Ausgaben des Hamburger Fremdenblatts in den Dreißigerjahren nicht erschienen. Unter Umständen kam es zu einer Ortsverwechselung, auf der dann auch die anschließenden Nachforschungen Barenscheers aufbauten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der mutmaßliche Hinweis auf die Ortswüstung „Bagehorn“ und auch die etymologische Ableitung durch Barenscheer von „Bagehorn“ auf „Bogenhorn“ standhalten, ergibt sich weiterer Klärungsbedarf.

Bild: Lüßkuhle unmittelbar nördlich von Lünsholz. Quelle: H. Altmann, 2023.

Insbesondere ist fraglich, ob die Lokalisierung der vermeintlichen Ortswüstung zutreffen kann. Hierfür wäre zunächst zu klären, wo genau sich die Flur „Bogenhorn“ einst befand. Barenscheer stellte fest, dass die Flur auf der Kreiskarte als Beilage zum Speicher[10] „irrtümlich nördlich der Straße“ zwischen Weyhausen und Unterlüß angegeben worden sei.[11] 

Dabei verließ er sich offenbar auf die Eintragung des „Bogenhorn“ im Jagen 80 in der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899. Der Abgleich von georeferenzierten historischen Karten und die Auswertung moderner Laserscanaufnahmen zeigt jedoch, dass es nicht so einfach ist, den genauen Standort der Flur „Bogenhorn“ zu ermitteln.

Bild: Lüßberg - ehemals "Fahlen Berg". Quelle: H. Altmann, 2023.

Laut der Kurhannoverschen Landesaufnahme, aufgenommen durch Offiziere des hannoverschen Ingenieurskorps im Jahr 1777, liegt die Flur Bogenhorn eindeutig nördlich der später errichteten Straße zwischen Weyhausen und Unterlüß.[12] Die bezeichnete Stelle liegt hiernach nordöstlich der ebenfalls eingetragenen Lüßkuhle, unmittelbar am Fahlen Berg.

Dieser wird in späteren Kartenwerken zwar nicht mehr als solcher aufgeführt – an seiner Stelle wurde fortan jedoch der Lüßberg verzeichnet. Die Lüßkuhle ist bis heute im Gelände als natürliche Senke auffindbar. Bemerkenswert ist, dass in der Karte von 1777 südlich der Lüßkuhle die Flurnamen Kempelhorn und Auf der Warte verzeichnet sind.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Kurhannoversche Landesaufnahme 1777, Blätter Hermannsburg und Holdenstedt, Google Earth.

Im Atlas von Papen aus dem Jahre 1831 tauchen die Flurbezeichnungen nicht auf. Erst in einer Spezialkarte des ehemaligen Forstreviers Dalle aus dem Jahr 1848 treten die Flurbezeichnungen Bogenhorn und Kempelhorn wieder in Erscheinung. Zu bemerken ist, dass die Flurbezeichnung Kempelhorn laut dieser Karte deutlich weiter nördlich eingetragen worden ist und die Bezeichnung des Bogenhorn weiter südlich. Beide Flurnamen befinden sich laut der Karte von 1848 ungefähr auf gleicher Höhe. 

Die seltsame Wanderung der Flurnamen scheint sich in Hinblick auf spätere Kartenwerke fortzusetzen. In der Königlich Preußischen Landesaufnahme von 1899 ist die Flur Kempelhorn bereits unmittelbar nördlich von Lünsholz und etwas südlich der Lüßkuhle zu finden. Die Flurbezeichnung Bogenhorn war noch weiter nach Süden verlegt worden und befand sich nun im Bereich jenes trockengefallenen Urstromtals des Drellebaches, wo Barenscheer schließlich die vermeintliche Wüstung Bagehorn platzierte.

Bild: Verlagerung der Flurnamen "Kempelhorn" und "Bogenhorn". Quelle: Karte des Deutschen Reiches 1:100.000, Google Earth.

Die Genese der Flurnamen ist beachtenswert. Das Kempelhorn „wanderte“ im Laufe von rund 120 Jahren etwa zwei Kilometer in nördliche Richtung – das Bogenhorn schaffe es dagegen sogar rund zweieinhalb Kilometer in den Süden. Ursächlich mag gewesen sein, dass in der Gegend nur wenige markante Fixpunkte existierten, an denen sich die Flurbezeichnungen hätten richten können. 

Diese Entwicklung zeigt jedoch, dass die Flurnamen nur begrenzt Aufschluss über den Standort der mutmaßlichen Wüstung geben. Die Geländebeobachtungen Barenscheers können somit keine Lokalisierung der vermeintlichen Wüstung liefern, da diese – sofern sie tatsächlich mit dem Flurnamen Bogenhorn zusammenhängt – sehr wahrscheinlich weiter nördlich lag.

Bild: Abfall des Geländes im Bereich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Die vermeintlich als „Bogenhorn“ identifizierte Stelle wird in der Kurhannoverschen Landesaufnahme als „Auf der Warte“ bezeichnet. In Zusammenhang mit der markanten Geländeformation könnte es sich hierbei möglicherweise dennoch um eine interessante historische Stelle handeln. 

Als „Warten“ bezeichnete Bereiche waren in früherer Zeit nicht selten die Standorte vorgeschobener (militärischer) Beobachtungsposten. Tatsächlich liegt in unmittelbarer Nähe zu dieser Örtlichkeit eine markante rechteckige Schanze, deren historische Bestimmung bislang noch nicht geklärt werden konnte. Die Flur „Auf der Warte“ befindet sich auf einer beachtlichen Geländeanhöhe, was die Annahme eines Beobachtungspunktes stützen könnte.

Bild: Relikte einer rechteckigen Schanze südlich der Flur "Auf der Warte". Quelle: H. Altmann, 2023.

Ob der Familienname Bagehorn auf einen wüst gefallenen Bauernhof im Lüßwald zurückgeht, bleibt bis auf Weiteres ungeklärt. Ausgeschlossen wäre die Existenz einer Wüstung im Lüßwald wohl zwar nicht – Urkundenbücher, Zins-, Lehn- und Viehschatzregister sowie auch sonstige historische Quellen geben diesbezüglich jedoch keinerlei Hinweise.[13] Mythen, Sagen und Legenden zu einem untergegangenen Gehöft in dieser Gegend sind bislang nicht bekannt geworden. 

Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass in Bezug auf die mutmaßliche Wüstung Bagehorn lediglich eine Verwechselung vorliegen sollte, so hält der Lüßwald sicherlich noch viele spannende Entdeckungen bereit.

Hendrik Altmann

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[1] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel Jg. 31, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[2] Alpers/Barenscher, Celler Flurnamenbuch, 1952.
[3] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[4] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[5] Gedicke, Chronik der Gemeinde Unterlüß, Bd. 1, S. 189.
[6] Paschke, Der Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 05.03.1932.
[7] Hamburger Fremdenblatt v. 16.05.1935, Eintragungen in das Handelsregister v. 14.05.1935.
[8] RGBl. Teil I, Nr. 100 v. 16.09.1935.
[9] Hamburger Fremdenblatt, Briefkasten, Abendausgabe v. 22.09.1937.
[10] Helmke/Hohle, Der Speicher, 1930.
[11] Barenscheer, Wüstung Bagehorn im Lüß, in: Sachsenspiegel, in: Cellesche Zeitung v. 19.08.1972.
[12] Kurhannoversche Landesaufnahme des 18. Jahrhunderts, Blatt Nr. 91, 92 Hermannsburg/Holdenstedt, 1777.
[13] Dolle/Flöer, Die Ortsnamen des Landkreises Celle, 2023.


Dienstag, 3. Oktober 2023

Vortrag 12.10.2023: Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen

 

Vortrag: Der Fliegerhorst Wesendorf - zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen (Hendrik Altmann)

Datum:                      12.10.2023

Uhrzeit:                     18:00 Uhr bis 19:30 Uhr

Veranstaltungsort:     Bomann-Museum, Schlossplatz 7, 29221 Celle

Kosten:                      Eintritt frei


Hintergrund

Es erinnert heute nicht mehr allzu viel daran, dass sich bei Wesendorf bis April 1945 der größte militärische Standort im Landkreis Gifhorn befand. Bei genauem Hinsehen lassen sich bis heute jedoch vereinzelte Spuren feststellen. Ins Auge sticht insbesondere ein gleichmäßig bewachsener Geländestreifen im zentralen Bereich des ehemaligen Rollfeldes an dessen Enden auffällige Bodenunebenheiten angrenzen.

Es handelt sich um die Überreste von Baumaßnahmen, die bis zum Kriegsende unter Hochdruck betrieben wurden und die dazu dienten, den Fliegerhorst um eine betonierte Start- und Landebahn zu erweitern. Hintergrund: der bislang unbefestigte Flugplatz sollte für den Einsatz moderner Düsenflugzeuge – sogenannter „Strahlflugzeuge“ einsatzfähig gemacht werden. Von derartigen Neuentwicklungen und vermeintlichen Wunderwaffen erhoffte man sich eine entscheidende Wendung im längst verlorenen Krieg.

Schuften mussten bei Wesendorf vorwiegend Zwangsarbeiter. Zum Einsatz kamen hier hunderte Häftlinge der Zuchthäuser Wolfenbüttel und Celle. Zum überwiegenden Teil waren es politische Häftlinge, d.h. keine Schwerverbrecher, die im sogenannten "Außenkommando Krümme" – einem bewachten Barackenlager im Süden des Flugplatzes – unter unmenschlichen Umständen untergebracht waren. Verurteilt für Verbrechen, wie beispielsweise das Hören ausländischer Radiosender, das Lesen "feindlicher" Propaganda oder geringfügige Diebstahlsdelikte, waren die Häftlinge schwerster körperlicher Arbeit, unzureichender Versorgung und der rohen Behandlung durch die Bewacher ausgesetzt. Etliche überlebten diese Zustände nicht – junge Männer starben mitunter an Körperschwäche und Herzversagen. Systematisch aufgearbeitet wurden diese Zusammenhänge bislang nicht.

Für Buch und Vortrag „Der Fliegerhorst Wesendorf – zwischen Zwangsarbeit und Wunderwaffen“ wertete Hendrik Altmann archivalische Bestände und weiteres Quellenmaterial erstmals umfassend aus. Die Recherchen lieferten insbesondere Erkenntnisse darüber, wie die Zusammenarbeit zwischen den Zuchthausverwaltungen in Celle und Wolfenbüttel in Bezug auf die Bereitstellung von Arbeitskräften vonstattenging. Die unmittelbaren Beziehungen zwischen Rüstungsprojekten und Zwangsarbeit werden am Beispiel des Fliegerhorstes Wesendorf belegt.







Donnerstag, 8. Juni 2023

Was geschah mit dem Lager Mondhagen?




Am 8. April 1945 ereignete sich der schwerste Luftangriff auf Celle während des Zweiten Weltkriegs. Die Zusammenhänge waren bereits mehrfach Gegenstand von Untersuchungen – dennoch tauchen immer wieder ergänzende Informationen auf. Jüngste Archivrecherchen liefern Hinweise zum ehemaligen „Reichsbahnlager Mondhagen“, das im Zuge des Luftangriffs an jenem Apriltag kurz vor Kriegsende vollständig zerstört worden ist.

Heute schlängeln sich schmale ausgetretene Pfade durch das dichte Unterholz. Gelegentlich rauschen Züge auf der angrenzenden Bahnstrecke Hannover/Celle vorbei. Auf den ersten Blick wirkt die Grünfläche mit ihrem dichten Baumbestand nicht besonders auffällig. Der bezeichnete Bereich befindet sich in Westercelle dort, wo die Straße „Mondhagen“ heute unmittelbar an den Bahngleisen endet.

Wie historische Karten belegen, verlief die Straße Mondhagen früher anders als heute. Sie querte die Bahnstrecke in Höhe des Gleisabzweigs nach Gifhorn/Schwarmstedt und führte weiter in Richtung Wietzenbruch. Die Gleiskreuzung war das Bindeglied, das die einstigen Streckenabschnitte der Unter- und Oberallertalbahn in Celle miteinander verband. Zwischen den Gleisen der Fernstrecke in Richtung Hannover und dem Streckenabzweig in Richtung Gifhorn befand sich bis zum 8. April 1945 das sogenannte „Reichsbahnlager Mondhagen“. Die amtliche Bezeichnung dieses Barackenlagers lautete „Zivilarbeiterlager der Reichsbahn, Bahnmeisterei 1, Mondhagen“.

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: G.S.G.S. Map 4414, Sheet 3326, Third Ed., published by War Office, 1944, public domain. 

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: Google Earth. 

Das Lager bestand aus mindestens vier Holzbaracken sowie kleineren Nebengebäuden. Aus Nachkriegsunterlagen zu Nachforschungen über die Gefängnisse und Lager im Reichsgebiet geht hervor, dass das Reichsbahnlager Mondhagen nur schwach bewacht worden ist. Lediglich zwei unbewaffnete Zivilisten waren als Lagerwarte eingesetzt. Immerhin rund 120 Personen waren in dem Lager damals untergebracht – davon ca. zwanzig Polen und im Übrigen Russen. Von diesen waren etwa zwanzig mitsamt ihrer Familie in dem Barackenlager untergekommen.

Die Insassen des Lagers waren offenbar – je nach ihrer Qualifikation – zu verschiedenen Tätigkeiten bei der Reichsbahn in Celle eingesetzt. Die Arbeitskräfte wurden zum Teil auch im Fahrdienst beschäftigt. Die Arbeitszeit betrug je nach Einsatz ca. acht bis zehn Stunden. Für ihre Arbeit erhielten die Lagerinsassen eine Vergütung – inwiefern diese den damals üblichen Standards entsprach, lässt sich den vorliegenden Quellen nicht entnehmen. Die Bewohner des Lagers Mondhagen durften sich abends und Sonntags außerhalb des Lagers frei bewegen. Sie besaßen zwar einen entsprechenden Ausweis, trugen jedoch keine Erkennungsnummern.

Bild: Lage des Lagers Mondhagen in Westercelle. Quelle: Ausschnitt Luftbild Frühjahr 1945. 

In den frühen Abendstunden des 8. April 1945 näherten sich mehrere Bomberstaffeln der 9. US Air Force (USAAF) der Stadt Celle. Es handelte sich um schnelle Flugzeuge des Typs Martin B-26 „Marauder“ (dt.: Plünderer). Nach einem vorangegangenen Angriff auf die Erdölwerke bei Nienhagen, steuerten nachfolgende Bomberstaffeln das Celler Stadtgebiet an. Dort ahnte man offenbar noch nichts von der herannahenden Gefahr – obwohl über den brennenden Erdölwerken bei Nienhagen bereits tiefschwarze Rauchwolken standen. 

Zwischen 18:10 und 19:15 Uhr wurde der Celler Güterbahnhofs durch aufeinanderfolgende Angriffswellen mehrerer Bomb Groups der USAAF getroffen. Laut dem offiziellen Bericht der Ordnungspolizei erfolgte dieser Luftangriff durch mindestens 80 Flugzeuge, die ca. 360 Minen- und Sprengbomben abwarfen. Zu folgenschweren Ereignissen kam es durch die Bombardierung eines KZ-Transportzuges, der sich zu diesem Zeitpunkt im Bereich des Celler Güterbahnhofs aufhielt. Zu diesen Zusammenhängen wurde bereits mehrfach berichtet. Kürzlich erschienen drei Beiträge in der Celleschen Zeitung in denen Zeitzeugen ihre persönlichen Erlebnisse schilderten (Teil I, Teil II, Teil III). 

Bild: Three Martin B-26 Marauders Aim Fresh Blows At The Nienhagen, Germany Oil Refinery Obscured By Thick Smoke From Previous Hits By 9Th Bombardment Division. Quelle: www.Fol3.com, NARA Reference: 342-FH-3A22118-57133AC, published with permission of Fold3.com. 

Das Augenmerk soll an dieser Stelle auf die Geschehnisse in Hinblick auf das Reichsbahnlager Mondhagen gerichtet werden. Dieses befand sich südlich des heutigen Wilhelm-Heinichen-Rings und damit eigentlich außerhalb des Güterbahnhofs. Alliierte Luftbilder, die am 8. April 1945 noch vor dem Luftangriff aufgenommen worden sind, zeigen das Reichsbahnlager Mondhagen mit zwei kleineren, rechtwinkligen Luftschutzgräben in dessen nördlichem Bereich. 

Diese Gräben befanden sich ungefähr dort, wo die Gleise der Oberallertalbahn aus Richtung Gifhorn auf die Fernbahnstrecke einmündeten. Sicherlich hätten derartige Luftschutzgräben nur einen rudimentären Schutz gegen umherfliegende Splitter geboten – keinesfalls jedoch gegen direkte Bombentreffer. Genau hierzu kam es an jenem Apriltag jedoch.

Bild: Auszug aus dem Einsatzbericht der 391st Bomb Group. Quelle: Mission Summary 08.04.1945, Field Order 839 & 840, Headquarters of the 9th Bombardement Division. 

B-26 Bomber der 391st Bomb Group, die in der Box I – also in der ersten Angriffsstaffel dieser Formation flogen – konnten den „DMPI“, d.h. den „Desired Mean Point of Impact“ (= planmäßiger Angriffsschwerpunkt) aufgrund der Rauchentwicklung am Boden nicht erkennen. Die Bomberstrategie der US-Luftstreitkräfte sah in einem solchen Fall nicht vor, dass die angreifenden Maschinen neue Anflüge für die Bombardierung des angestrebten Ziels unternahmen – es galt, den Aufenthalt der eigenen Flugzeuge im Zielgebiet auf eine möglichst kurze Zeitspanne zu begrenzen. 

Den Crews blieben daher nur wenige Augenblicke, um zu entscheiden, wie mit der Bombenlast verfahren werden sollte. Den Aufklärungsberichten, d.h. den sogenannten „Interpretation Reports“, die bereits ab Oktober 1944 zusammengestellt worden sind, ist zu entnehmen, dass der Angriffsbereich den gesamten Korridor zwischen dem Celler Personenbahnhof und dem südlichen Ende des Güterbahnhofs umfasste. Dies ermöglichte es den angreifenden Bomb Groups ihre Bombenlast lokal versetzt abzuwerfen, sofern bestimmte Bereiche aufgrund der Rauchentwicklung nicht auf Sicht bombardiert werden konnten.

Am 8. April 1945 entschieden sich die angreifenden Bomber der 391st Bomb Group ihre Bomben auf die Gleiskreuzung abzuwerfen, die sich rund 2.100 Fuß südlich des eigentlichen Zielpunktes am Güterbahnhof befand. Der Einsatzbericht dokumentiert, dass die abgeworfenen Bomben in einem dichten Muster aufschlugen und einen Bereich mit einem Durchmesser von rund 1.000 Fuß bedeckten. 

Bild: Bombardierung des Gleiskreuzes und des Lagers Mondhagen am 08.04.1945. Quelle: Luftbild 08.04.1945, Sammlung Altmann. 

Vier Gleisstränge wurden als getroffen bestätigt – darüber hinaus sei eine Straßenüberquerung sowie sechs Wohngebäude getroffen worden, heißt es im Einsatzbericht. Es handelte sich hierbei zweifelsfrei um das Reichbahnlager Mondhagen. Luftbilder, die während der Bombardierung aufgenommen worden sind, zeigen die explodierenden Sprengbomben im Bereich der Gleiskreuzung nördlich und südlich der Straße Mondhagen. Abgeworfen wurden an jenem Tag 2.000 Pfund schwere Bomben des Typs „General Purpose“, d.h. Mehrzweckbomben, die zum Angriff auf unterschiedliche Bodenziele verwendet werden konnten.

Das Vorgehen der Einheit der 391st Bomb Group wirft mit Blick auf die Begründung, der planmäßige Angriffsschwerpunkt sei aufgrund der Rauchentwicklung nicht erkennbar gewesen, durchaus Fragen auf. Zwar ist auf dem Luftbild des Angriffs eindeutig eine massive Rauchwolke zwischen der Gegend des Güterbahnhofs und Westercelle zu erkennen. Weite Bereiche des südlichen Güterbahnhofs sind jedoch klar und ohne Raucheinwirkung zu sehen. In diesem Areal befanden sich Zielpunkte, die bereits im Aufklärungsbericht genannt worden sind. 

Diese Ziele hätten die Bombercrews der 391st Bomb Group am 8. April 1945 eigentlich auf Sicht bombardieren können – sie taten es jedoch nicht. Ein möglicher Grund mag darin liegen, dass der koordinierte Abwurf auf der Gleiskreuzung der Allertalbahn lohnenswerter erschien. Dort konnten gleichzeitig Schienen- und Straßeninfrastruktur getroffen werden und darüber hinaus auch noch Gebäude zerstört werden.

Bild: Ansicht des Gleiskreuzes heute - mit Blick in Richtung des ehemaligen Lagers Mondhagen. Quelle: H. Altmann, 2023. 

Alliierte Luftbilder, die am 10. April 1945 aufgenommen worden sind, belegen das Ausmaß der Zerstörungen – sowohl im Bereich des Celler Güterbahnhofs als auch im Bereich der besagten Gleiskreuzung der Allertalbahn, in der sich das Barackenlager Mondhagen der Reichsbahn befand. Die Einschlagskrater liegen so dicht beieinander, dass sie sich mit bloßem Auge kaum als mehrfache Treffer unterscheiden lassen.

Von den Gebäuden ist auf diesen Luftbildern nichts mehr zu sehen – der zentrale Bereich des kleinen Reichsbahnlagers erhielt mehrere direkte Treffer und wurde vollkommen verwüstet. Auch der angrenzende Bereich südlich der Straße Mondhagen ist mit Bombenkratern übersäht. Die Gleisverbindung in Richtung Gifhorn wurde mehrfach getroffen. Die Gleise der Fernstrecke in Richtung Hannover waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Der Streckenverlauf in Richtung Schwarmstedt wurde durch den Luftangriff scheinbar nicht beschädigt – die Masse der abgeworfenen Bomben traf offenbar den östlichen Bereich der Gleiskreuzung.

Bild: Ein Relikt des ehemaligen Lagers Mondhagen? Quelle: H. Altmann, 2023. 

Es ist bislang nicht geklärt, ob sich zum Zeitpunkt der Bombardierung noch Menschen im Reichsbahnlager Mondhagen befanden. Eine Überlebenschance bei einem derart konzentrierten Trefferbild hätte im unmittelbaren Bereich sicherlich nicht bestanden. Weder die Luftschutzgräben, noch die Holzbaracken hätten auch nur annähernd Schutz gegen die Detonationen, die umherfliegenden Splitter sowie die Druckwelle geboten. 

Aus den seinerzeit erfassten Exhumierungs- und Umbettungsunterlagen ergeben sich allerdings keine Rückschlüsse auf Leichenfunde im Bereich des ehemaligen Reichsbahnlagers Mondhagen. Es wäre denkbar, dass die Insassen das Lager in Folge des ausgegebenen Luftalarms verließen und anderswo Schutz suchten. Ebenso wäre es möglich, dass das Lager durch den vorausgegangenen Luftangriff am 22. Februar 1945 bereits so schwer beschädigt worden war, dass die Insassen schon ab diesem Zeitpunkt anderswo untergekommen waren.

Bild: Ein Relikt des ehemaligen Lagers Mondhagen? Quelle: H. Altmann, 2023. 

Heute ist von dem einstigen Reichsbahnlager Mondhagen vor Ort so gut wie nichts mehr zu erkennen. Der ehemalige Lagerbereich ist mit dichtem Unterholz bewachsen. Sichtbare Relikte der Baracken bzw. deren Fundamenten existieren so gut wie nicht mehr. Die Bombenkrater sind längst verfüllt worden. Auch moderne Auswertungsmethoden anhand von Laserscanaufnahmen liefern in diesem Bereich keine Erkenntnisse über auffällige Bodenstrukturen. 

Nur eine geradlinig verlaufende Reihe stämmiger Eichen zeigt den ehemaligen Verlauf der Straße Mondhagen noch an. Der einstige Standort des Lagers lässt sich somit noch ungefähr erahnen, da sich dieses früher unmittelbar nördlich der Straße im Bereich des Gleiskreuzes befand.

Bild: Reihe alter Eichen am ehemaligen Straßenverlauf des Mondhagen. Quelle: H. Altmann, 2023. 

Durch den Luftangriff am 8. April 1945 sollten militärtaktische Ziele getroffen werden. Die Erdölwerke bei Nienhagen und der Güterbahnhof in Celle passten in dieses Muster. Ebenso passt hierzu, dass angreifende Verbände der 394th Bomb Group, die eigentlich die Erdölwerke bei Nienhagen bombardieren sollten, diese aufgrund der massiven Rauchentwicklung jedoch nicht auf Sicht treffen konnten, stattdessen ihr Ausweichziel – nämlich den Bahnhofsbereich in Gifhorn – bombardierten. Die Angriffe der schnellen Mittelstreckenbomber des Typs B-26 „Marauder“ sollten an jenem Tag Nachschubrouten treffen und auf deutscher Seite Kräfte binden. 

In Celle löste der Luftangriff vom 8. April 1945 blankes Chaos aus. Bis heute ist den Überlieferungen von Zeitzeugen zu entnehmen, wie nachhaltig sich die Ereignisse der Bombardierung in ihrem Gedächtnis einprägten. Militärstrategisch konnte die US Air Force an jenem Tag zweifelsohne einen Erfolg verbuchen. Für diesen bezahlten am Boden etliche einen hohen Preis – insbesondere die Insassen jenes KZ-Transportzuges, der durch die Bomben am 8. April 1945 getroffen worden ist.

Obwohl die damaligen Ereignisse bereits mehrfach anhand historischer Quellen betrachtet und aufgearbeitet worden sind, treten immer wieder neue Erkenntnisse ans Licht. Die Ereignisse um das ehemalige Reichsbahnlager Mondhagen bilden hierbei nur ein kleines Puzzlestück im Gesamtbild des damaligen Geschehens.

H. Altmann

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Weitere Informationen: 

8. April 1945 - Bomber der US Air Force über Celle 
Karte zeigt Zerstörungen: 8. April 1945
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Stand: 07.06.2023
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Quellen:

NLA Hannover, ZGS 10 Nr. 1571.
Bertram, April 1945 – Der Luftangriff auf Celle und das Schicksal der KZ-Häftlinge aus Drütte.
Einsatzbericht der 9. USAAF v. 08.04.1945.
Luftbilder Celle v. 08.04.1945, Sammlung Altmann.
Chef der Ordnungspolizei, Hauptamt Ordnungspolizei, Bericht vom 08.04.1945, Bundesarchiv, R19, 341.
National Archives Washington, RG 243, Damage Assessment Reports 1942-1945, Entry 27 1-10, File Title III a (3061), Box 166.


Dienstag, 7. März 2023

Zwischen Uelzen und Celle: die Feldbahnübung von 1892

Bild: Brücke über die Aller bei Celle. Quelle: DeGolyer Library, Southern Methodist University

Die ausgedehnten Heideflächen nördlich von Celle waren in der Geschichte mehrfach Schauplatz militärischer Manöver. Eine besonders spektakuläre Übung wurde unter großem Aufwand im Jahre 1892 abgehalten. In deren Rahmen wurde innerhalb weniger Tage eine eingleisige Feldbahnstrecke rund 70 Kilometer durch die Heide – zwischen Uelzen und Celle – verlegt und in Betrieb genommen.

Am 14. Juli 1892 setzte in Uelzen „ein sehr reges militärisches Leben“ ein.[1] An diesem Tag trafen die ersten Mannschaften der Berliner Eisenbahnbrigade aus Schöneberg ein. Fortwährend erreichten Zugtransporte mit Baumaterial und weitere Truppenkontingente den Uelzener Bahnhof. Ziel des Aufmarsches war eine praktische Übung der Eisenbahnbrigade, in deren Vorbereitung eine schmalspurige Feldbahnstrecke zwischen Uelzen und Celle errichtet und in Betrieb genommen werden sollte.

Ein vergleichbares Manöver hatte bis dato noch nie stattgefunden, denn die Militäreisenbahn war für damalige Verhältnisse ein relativ moderner Truppenbestandteil. Der Deutsch-Französischen-Krieg (1870-1871) hatte das Bewusstsein für die militärische Relevanz von Mobilität geschärft. Um diese für Truppen und Ausrüstung zu gewährleisten, wurden bereits ab 1866 gesonderte Eisenbahnabteilungen im Heer geschaffen. 

Die Eisenbahnregimenter sollten im Ernstfall insbesondere in der Lage sein, behelfsmäßige Feldbahnen in kurzer Zeit bereitzustellen, um im Kriegsfall die erforderliche Beweglichkeit größerer Kontingente zu gewährleisten. Mit der Einrichtung eines eigenen Standortes in Schöneberg bei Berlin verfügte die Truppe zwar über neue Kasernen – an Platz für praktische Übungen, nämlich für die Anlage von Feldbahngleisen über mehrere Kilometer – mangelte es vor Ort jedoch. 

Bild: Bahnhof Uelzen. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Vor diesem Hintergrund fiel die Wahl für ein entsprechendes Manöver auf die dünn besiedelte Heidegegend zwischen Uelzen und Celle. Die hiesige Landschaft bot sich für ein derartiges Unterfangen ideal an. Einerseits gab es wenig landwirtschaftlich genutzte Flächen, die im Rahmen der Übungen beschädigt werden konnten – andererseits war das Gelände recht abwechslungsreich. Es mussten mehrere Flüsse, sandige Steigungen und größere Moore überwunden werden. Gleichzeitig mussten die Eisenbahntruppen versorgt, transportiert und untergebracht werden. Die sogenannte Feldbahnübung des Jahres 1892 erfuhr daher auch überregional größere Beachtung.

Morgen, Dienstag den 12. d. Monats, rückt das königliche bayrische Eisenbahnbataillon nach der Lüneburger Haide ab, um dortselbst zusammen mit der königlichen preußischen Eisenbahnbrigade eine große vierwöchige Feldbahnübung durchzuführen.“, war in der Münchener Allgemeinen Zeitung damals zu lesen.[2] Letzte Kompanien des Bataillons erreichten Uelzen am 17. Juli 1892. Sie trafen in Kriegsstärke, d.h. mit je 182 Mann und 10 Offizieren ein.[3] Am 22. Juli 1892 waren bereits rund 1.000 Soldaten in Uelzen eingetroffen und wurden zunächst bei der örtlichen Bevölkerung einquartiert.

Bild: Depotkompanie nach Ankunft in Uelzen. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Das Baumaterial musste vollständig antransportiert werden. Schienen, Bahnschwellen sowie einige hundert Transportwagen und 50 Lokomotiven gelangten über Eisenbahntransporte auf der Normalspur zum Bahnhof Uelzen.[4] Bereits dort waren weitreichende infrastrukturelle Herausforderungen zu bewerkstelligen – Feldbäckereien und Feldschmieden wurden erreichtet, Platz für Neben- und Abstellgleise geschaffen, ein Wasserbrunnen zur Versorgung gebohrt und zahlreiche Nebengebäude errichtet. Unmittelbar nach Beginn dieser Arbeiten wurde mit dem Bau der Feldbahnstrecke begonnen.

Bild: Einbautrupp der 4. Reservebaukompanie. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

In nur neun Tagen konnte die rund 70 Kilometer lange Strecke fertiggestellt werden.[5] Die Baumaßnahmen erfolgten versetzt – die Arbeiten für den Unterbau erhielten einen Vorsprung von zwei Tagen, sodass anschließend der Oberbau erfolgen konnte. Am 11. Tag nach Beginn der Bauarbeiten konnte auf der fertigen Strecke der planmäßige Betrieb aufgenommen werden.[6]

Der Streckenverlauf führte von Uelzen zunächst nach Hansen und überquerte hier die Gerdau. Von dort aus lief die Strecke in südwestliche Richtung vorbei an Unterlüß und erreichte etwa bei Gerdehaus den schmalen Bachlauf der Sothrieth. Dieser und die vorgelagerten Feuchtwiesen wurden mit einer langgezogenen Brückenkonstruktion überquert. 

Bild: Übergang über die Sothrieth. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Im weiteren Verlauf erreichte die Feldbahnstrecke Hermannsburg – hier überwand sie die Lutter (auch bezeichnet als Weesener Bach) und führte dann weiter nach Süden. Später stieß die Strecke auf die alte Heerstraße in Richtung Celle und folgte deren Verlauf über die Anhöhe des Citronenberges westlich von Rebberlah. 

Bild: Brücke über die Lutter bei Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bild: Küche in Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Auf freier Strecke waren in bestimmten Abständen kleinere Bahnstationen und Holzschuppen errichtet worden. So beispielsweise auch bei Streckenkilometer 50 südlich von Rebberlah. Von dort aus verlief die Feldbahn weiter in südwestliche Richtung durch den Arloh bis fast nach Scheuen. Hier befand sich ebenfalls eine kleine Bahnstation bei Kilometer 55.

Bild: Ankunft auf Kilometer 55. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Südlich von Scheuen führte die Feldbahnstrecke an der alten Ziegelei vorbei und dann kreuzte die neue Chaussee nach Hamburg unmittelbar östlich von Groß Hehlen. Bei Klein Hehlen wurde schließlich der Streckenkilometer 60 erreicht. Südlich von Klein Hehlen erreichte die Feldbahn schließlich ihr größtes natürliches Hindernis – die Aller. 

Hier wurde eine Brückenkonstruktion aus Stahl über den Fluss errichtet – wohlgemerkt: Nachts. Die Allgemeine Militärzeitung hielt hierzu später fest: „Ein interessantes Schauspiel bot das Legen einer Eisenbahnbrücke Nachts über den Allerfluß im Neustädter Holze bei Celle. Beim Scheine feldmäßiger Beleuchtung hantierten die Soldaten in ihren Arbeitsanzügen ameisenartig, im Hintergrunde ertönten die taktmäßigen Hammerschläge der Feldschmiede, welche das weißglühende Metall verarbeitete.[7] 

Bild: Brücke über die Aller. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Im Neustädter Holz nahm die Feldbahnstrecke eine scharfe Linkskurve und erreichte die Celler Neustadt südlich der Fuhse. Dort wurde ein behelfsmäßiger Feldbahnhof eingerichtet.

Bild: (Feld-)Bahnhof Celle. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Insgesamt wies die Feldbahnstrecke auf ihren 64 Kilometern Länge rund 400 Meter Brücken auf.[8] Mit Verzweigungen und Nebengleisen waren rund 70 Kilometer Gleise verlegt worden. Ein größeres Moor musste auf einer Breite von ca. 1,5 Kilometern überwunden werden – hierfür wurden unter anderem Roste in den Boden eingelassen, um das Gewicht der Bahnstrecke besser zu verteilen. 

An den Baumaßnahmen waren insgesamt 9 Eisenbahnbaukompanien beteiligt – der spätere Betrieb wurde durch 5 dieser Kompanien durchgeführt.[9] Während der Baumaßnahmen kam es zu kleineren und größeren Unfällen. Bei Hermannsburg stießen zwei Transportwagen zusammen, wobei zwei Soldaten zwischen die Wagen gerieten und starke Quetschungen erlitten.[10]

Bild: Kilometer 45 während des Betriebes. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Nach Abschluss der Bauarbeiten begann die eigentliche Übungsphase des laufenden Bahnbetriebs. Um die Tauglichkeit der Feldbahn für den Kriegsfall unter Beweis zu stellen, sollte insbesondere die Frequenz der Zugtransporte und die Logistik erprobt werden. Täglich fuhren rund 14 Züge auf der Feldbahn zwischen Celle und Uelzen – es wurde dabei zwischen Geschwindigkeiten von 10 – 15 km/h variiert.[11] Auf der Strecke kam insbesondere ein neuer Sanitätsversuchszug zum Einsatz.

Bild: Sanitätsversuchszug in Hermannsburg. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Aufgrund der gesteigerten Beachtung dieses Manövers – immerhin handelte es sich um den größten bis dahin je durchgeführten Feldbahnversuch – rechnete man mit einem Besuch des Deutschen Kaisers. Ein Salonwagen für die Befahrung der Feldbahnstrecke war bereits bereitgestellt worden.[12] Zu einem kaiserlichen Besuch kam es allerdings nicht – die Gründe sind bis heute unbekannt.

Bild: das Offizierskorps bei der Versammlung in Celle am 10. August 1892. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Stattdessen wurde die Feldbahn unter Anwesenheit hochrangiger Generäle in Augenschein genommen. So besichtigte der Generalmajor Max von Bock und Polach im August 1892 die Bahnstrecke. Bereits 1893 wurde von Bock und Polach zum Generalleutnant der 20. Division in Hannover ernannt. Ab 1897 war er General der Infanterie. Zeitgenössische Aufnahmen zeigen Max von Bock und Polach und das Offizierskorps bei einer Befahrung der Strecke. Es liegen Fotoaufnahmen vor, die von Bock und Polach bei der Abfahrt aus Celle und bei der Besichtigung der Station am Streckenkilometer 50 zeigen.

Bild: Besichtigung der Strecke durch Herrn General von Bock und Polach. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bild: Besichtigungsfahrt seiner Exzellenz des Chefs des Generalstabs - Kilometer 50. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Bis Mitte August 1892 lief der planmäßige Übungsbetrieb auf der Feldbahn. Als dieser erfolgreich beendet war, rückten zunächst die bayrischen Eisenbahnkompanien wieder ab. Nachdem auch die Stäbe der Eisenbahnbrigade nach Berlin zurückgekehrt waren, wurde die einspurige Feldbahn komplett zurückgebaut. 

Bild: Abfahrt des letzten fahrplanmäßigen Zuges von Hermannsburg nach Uelzen am 13. August 1892. QuelleDeGolyer Library, Southern Methodist University

Der Rückbau setzte von Hermannsburg aus in beide Richtungen gleichzeitig ein.[13] Hölzer, Bretter, Bohlen und Balken wurden anschließend zusammen mit sonstigem Baumaterial öffentlich versteigert. Darüber hinaus wurden die im Zuge der Baumaßnahmen entstandenen Flurschäden taxiert.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn im Bereich des Citronenbergs bei Miele. Quelle: Altmann, 2023. 

Aus Sicht des Militärs wurde das Manöver im Nachhinein als positiv bewertet. „Das Ergebnis der Feldbahnübungen ist, der Schwierigkeit des Geländes entsprechend, durchaus zufriedenstellend gewesen. Offiziere und Mannschaften haben sich dem schwierigen und anstrengenden Dienste mit Ausdauer unterzogen. Aus dem Verlauf der Übung hat sich auch ergeben, dass sich die Bahnspur von 60 Zentimetern in hohem Maße für den Ausbau von Kleinbahnen, selbst in den schwierigsten Geländegestaltungen, eignen dürfte (...).“[14] Einige Anwohner und Bauern bedauerten es offenbar sogar, dass die Feldbahnlinie zwischen Celle und Uelzen wieder vollständig abgebaut worden war. Durch diese hatte man sich wohl einen Aufschwung in den kargen Heidelandschaften erhofft.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn bei Miele. Quelle: Altmann, 2023. 

Heute sind von der ehemaligen Feldbahnstrecke nur noch wenige Spuren im Gelände zu erkennen. Es ist ohnehin beachtlich, dass davon überhaupt noch etwas zu sehen ist, denn immerhin liegen die damaligen Ereignisse bereits über 130 Jahre zurück. Im Bereich der Anhöhe des Citronenbergs bei Miele (südöstl. Severloh) ist noch ein tiefer Geländeeinschnitt parallel zur alten Heerstraße zu erkennen.

Bild: Spuren der ehemaligen Feldbahn bei Weesen/Hermannsburg. Quelle: Altmann, 2023. 

Bild: hier befand sich einst die massive Brücke der Feldbahn über die Aller südlich von Klein Hehlen. Quelle: Altmann, 2023. 

Rund einen Kilometer nördlich des Citronenbergs sind ebenfalls noch Reste der einstigen Feldbahnstrecke erhalten geblieben – gleichmäßige Dämme zeugen von deren Verlauf. Nordöstlich von Weesen lässt sich dieser nur noch in geringfügigem Maße im Gelände erkennen. Moderne Laserscanaufnahmen ermöglichen es jedoch auch in diesen Bereichen, den Streckenverlauf aufzuspüren. Restlos verschwunden ist dagegen die einstige Brücke der Feldbahn über die Aller bei Celle. Wo sich damals zeitweise der Zielbahnhof der Feldbahnstrecke befand, erstreckt sich heute der Celler Stadtteil Neustadt/Heese.

H. Altmann

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Stand: 03/2023

[1] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[2] Münchner Allgemeine Zeitung, Jg. 94. Nr. 192, 12.07.1892.
[3] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[4] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[5] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 61, S. 485.
[6] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[7] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 61, S. 485.
[8] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[9] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[10] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[11] v. Löbell, Jahresberichte über die Veränderungen und Fortschritte im Militärwesen, Jg. 1895, S. 485.
[12] Allgemeine Militär-Zeitung, 1892 Nr. 59, S. 469.
[13] Deutsche Verkehrsblätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahnzeitung, Jg. 1892, Nr. 35, 01.09.1892.
[14] Deutsche Verkehrsblätter und Allgemeine Deutsche Eisenbahnzeitung, Jg. 1892, Nr. 35, 01.09.1892.


Donnerstag, 16. Februar 2023

Bergen. Endstation Bahnhofsrampe.


Für tausende Häftlinge war sie der erste Berührungspunkt mit dem Konzentrationslager Bergen-Belsen: die Rampe des ehemaligen Truppenlagers Bergen. Dieser und angrenzende Bereiche sind heute ein Gedenkort und darüber hinaus ein eingetragenes Baudenkmal. Wird das historische Areal von einem Neubauprojekt der Deutschen Bahn bedroht?

Als der Flight Officer D. Pollard am Morgen des 17. September 1944 in seiner Supermarine Spitfire vom Flugplatz der Royal Air Force in Benson (England) abhob, ahnte er vermutlich nicht, dass ihn seine Mission in unmittelbare Nähe eines der größten deutschen Konzentrationslager führte. Ausgestattet war sein Flugzeug mit hochauflösenden Kameras – seine Aufgabe bestand an jenem Tag darin Luftaufnahmen zu Aufklärungszwecken zu machen. In mehreren Schleifen überflog Pollard den Truppenübungsplatz Bergen und schoss dabei unter anderem Aufnahmen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen sowie dessen angrenzenden Bereichen.

Die Landschaft auf den historischen Schwarzweißaufnahmen wirkt auf den ersten Blick unspektakulär. Schmale Wiesen- und Ackerstücke sowie vereinzelte Waldflächen dominieren. Die militärischen Einrichtungen des Truppenlagers Bergen ziehen mit einer Fülle von Kasernen, Hallen, Nebengebäuden und sonstigen Baulichkeiten jedoch unmittelbar den Fokus auf sich. Im Süden davon erkennbar: die Barackengebäude des Konzentrationslagers. 

Fast beiläufig dokumentieren die Luftaufnahmen nordwestlich der Ortschaft Belsen den Lagerbahnhof des Truppenlagers Bergen. Zu erkennen sind die große Verladerampe, mehrere parallel verlaufende Gleisstränge, das Stellwerk nebst benachbarter Drehscheibe sowie der noch heute vorhandene Wasserturm. Auf den Luftaufnahmen vom 17. September 1944 kann ebenfalls ein abgestellter Zug, bestehend aus mindestens zwölf Waggons, identifiziert werden. Auf den Dächern der Waggons wurden gut sichtbare Kreuze (verm. in der Farbe Rot) auf weißem Untergrund aufgemalt. Es liegt nahe, dass es sich um einen Lazarettzug gehandelt haben könnte.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Mit der Errichtung des Truppenübungsplatzes, der zunehmenden militärischen Nutzung des Areals und schließlich mit der Einrichtung des Konzentrationslagers legte sich der Deckmantel des Schweigens über die Landschaft. Über Züge die auf dem Lagerbahnhof eintrafen und deren Insassen liegen somit nur sehr spärliche Informationen vor. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang jedoch die Darstellung des ehemaligen Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und langjährigen Abgeordneten des Deutschen Bundestages Erhard Eppler. Als 18 jähriger Soldat war er in den letzten Kriegsmonaten zeitweise auf dem Truppenübungsplatz Bergen stationiert.

In Interviews gegenüber dem Spiegel (16.11.1983) und der Süddeutschen Zeitung (21.04.1985) beschrieb Eppler seine Erlebnisse. In seiner Darstellung erreichten ununterbrochen Lazarettzüge den Verladebahnhof Bergen – fast täglich wurden Teile seiner Kompanie abkommandiert, um Verwundete auszuladen. Dabei erlebte Eppler unbeschreibliches Elend – in den Zügen hatten „erbarmungslos zusammengeschossene Menschenleiber tagelang in Eiter, Blut, Speichel und Exkrementen zusammengepfercht gelegen.“ (Eppler, SZ, 21.04.1985). 

Viel schrecklicher empfand er jedoch die Zugtransporte, die für das KZ Bergen-Belsen bestimmt waren und die er und seine Kameraden beim Entladen der Lazarettzüge mit ansahen. Bei einer dieser Situationen trieb die SS – vermutlich ungarische – Jüdinnen mit der Peitsche aus den Güterwagen und weiter ins Konzentrationslager, so Eppler. Tote und Sterbende wurden gleichermaßen auf Lastwagen geworfen und abgefahren.

Bild: Karte des Lagerbahnhofs Bergen um 1938. Quelle: Topografische Karte, Reichsamt für Landesaufnahme, 1938.

Während über die Verwendung der Verladerampe auf dem Lagerbahnhof Bergen zur Be- und Entladung von KZ-Transporten mehrere Zeitzeugenberichte vorliegen, hält sich die Quellenlage mit Blick auf die ursprünglichen Nutzungszusammenhänge des Lagerbahnhofs bedeckt. Dies überrascht wenig, da die Rampe zunächst für die Verladung größerer Truppenkontingente errichtet worden war – also Vorgänge, die strengster Geheimhaltung unterlagen. 

Die baugeschichtlichen Zusammenhänge der Rampe sind daher nur fragmentarisch überliefert. Fest steht, dass der Truppenübungsplatz ab Mitte 1936 mit militärischen Einheiten belegt wurde – auf einem erhalten gebliebenen Gleisstrang ist zudem die Jahreszahl 1936 eingeprägt. In historischen Karten des Reichsamtes für Landesaufnahme in Berlin aus dem Jahr 1938 taucht der ausgebaute Lagerbahnhof bereits in voller Ausdehnung auf.

Bild: Zwei Soldaten der Wehrmacht - im Hintergrund der noch nicht vollständig fertiggestellte Lagerbahnhof Bergen - Ende der 1930er Jahre. Quelle: Archiv Altmann. 

Fotos, die gegen Ende der 1930er Jahre aufgenommen worden sind, zeigen den Lagerbahnhof noch ohne Kopfsteinpflaster. Wann und von welchen Arbeitskräften dieses verlegt worden ist, ist nicht bekannt. Im westlichen Bereich des Lagerbahnhofs waren die Gleise über mehrere Meter mit Holzbohlen ausgelegt, sodass Fahrzeuge auf die langgezogene Seitenrampe fahren konnten. Erst im Zuge einer Umbaumaßnahme im Jahr 2001 wurde ein Teil des Lagerbahnhofs zu einer Kopframpe umgestaltet – offenbar in Unkenntnis darüber, dass der Bereich bereits unter Denkmalschutz stand, wie die CZ am 21. September 2001 berichtete.

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe nach Umbaumaßnahmen. Quelle: Altmann, 2022. 

Zu beachten ist, dass der Lagerbahnhof ursprünglich ausschließlich für die Verladung von Truppen, Fahrzeugen und militärischer Ausrüstung vorgesehen war. Später wurde diese Einrichtung dann genutzt, um Kriegsgefangene - zunächst französische und belgische, später dann tausende sowjetische - nach Bergen-Belsen zu transportieren. 

Für die Versorgung des Truppenlagers Bergen existierten gesonderte Gleisstränge, die sich westlich des Lagerbahnhofs anschlossen. In diesem Bereich – östlich der Straßenbrücke der heutigen L298 – befanden sich im Herbst 1944 mindestens zwei größere Gebäude noch im Aufbau, wie historische Luftaufnahmen belegen. 

Informationen zum Verwendungszweck dieser Gebäude liegen bislang nicht vor – im Gelände lassen sich dort nur noch vereinzelt Relikte feststellen. Es liegt jedoch nahe, dass diese Gebäude in unmittelbarem Zusammenhang zum Lagerbahnhof bzw. dem benachbarten Gleiskörper gestanden haben – später befand sich in diesem Bereich offenbar eine Gleiswaage. 

Bild: Lagerbahnhof Bergen und Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

In westlicher Richtung hinter dieser teilten sich die Gleise – entsprechend der Einrichtungen, die sie versorgten – in das sogenannte Benzin-, Bäckerei-, Scheunen-, Kohlen- und Wäscherei-Gleis. Dies ist bemerkenswert, da für die erforderlichen Versorgungseinrichtungen des Standortes zusätzliche Gleisverbindungen bereits bei Errichtung des Lagerbahnhofs berücksichtigt worden waren – eine Gleisverbindung zum KZ Bergen-Belsen bestand jedoch nicht. Aus diesem Grund mussten die Häftlinge die Strecke von ca. 6,0 km zwischen Lagerbahnhof und Konzentrationslager zu Fuß bewältigen.

Bild: Relikte von ehemaligen Gebäuden, die in den Monaten vor Kriegsende westlich der L298 errichtet worden sind. Auf dem Abflussrohr ist eingeprägt "Steingutwerk Hermühlheim Deutschland". Quelle: Altmann, 2022. 

Als andere Konzentrationslager durch den raschen Vormarsch der Alliierten Streitkräfte im Osten und Westen zunehmend drohten aus dem eigenen Einflussbereich zu entgleiten, wurden die dort untergebrachten Häftlinge evakuiert. Zahlreiche dieser – teils als Fußmärsche und/oder als Bahntransporte – durchgeführten Evakuierungen entwickelten sich aufgrund völlig unzureichender Versorgung, mangelhafter Transportbedingungen und falsch eingeschätzter Transportzeiten unweigerlich zu sogenannten Todesmärschen. 

Im täglich schrumpfenden Einflussbereich der deutschen Verteidigungskräfte blieb das KZ Bergen-Belsen als eines der möglichen Ziele derartiger Transporte. Die rasch ansteigende Zahl der Häftlinge, Unterversorgung in jedweder Hinsicht und die Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten trugen maßgeblich zur hohen Sterblichkeit in der Endphase des Zweiten Weltkriegs bei. Der Lagerbahnhof weist daher eine besondere historische Bedeutung auf – ohne diese logistische Infrastrukturanlage wäre die Verlegung großer Häftlingstransporte aus weit entfernten Konzentrationslagern undenkbar gewesen.

Bild: Gedenkstein am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

In der unmittelbaren Endphase des Zweiten Weltkriegs kam dem Lagerbahnhof nochmals tragische Bedeutung zu. Etwa 6.700 Häftlinge sollten zwischen dem 6. und 10. April 1945 in drei Bahntransporten aus dem Aufenthaltslager Bergen-Belsen evakuiert werden. Nur einer dieser Züge erreichte Theresienstadt – die anderen beiden wurden bei Tröbitz bzw. bei Farsleben von sowjetischen bzw. US Truppen befreit.

Auf Initiative der Arbeitsgemeinschaft Bergen-Belsen e.V. (AG Bergen-Belsen) wurde die Verladerampe sowie angrenzende Bereiche des Lagerbahnhofs bereits vor rund 20 Jahren unter Denkmalschutz gestellt. Die Verladerampe sowie deren angrenzende Bereiche sind heute eingetragene Kulturdenkmale. 

Unter großem Einsatz der AG Bergen-Belsen – und insbesondere der Vorsitzenden Elke von Meding – wurde der Gedenkort an der ehemaligen Verladerampe realisiert. Informationstafeln und ein alter Güterwagen untermauern die historische Kulisse am Gedenkort, an dem seit mehreren Jahren regelmäßige Gedenkveranstaltungen, wie z.B. „Lichter auf Schienen“, stattfinden.

Bild: Gedenkort "Waggon" an der Verladerampe. Quelle: Altmann, 2022. 

Im Rahmen des Bahnprojektes Hamburg/Bremen-Hannover wurde im „Dialogforum Schiene Nord“ Vorschläge für einen Aus- bzw. Neubau entsprechender Bahnstrecken erarbeitet – u.a. im Abschnitt zwischen Hamburg und Hannover. Die weiterentwickelte Lösung des sogenannten optimierten Alpha-E plus Bremen ging schließlich in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans ein – es begannen entsprechende Vorplanungen und Prüfungen möglicher bestandsnaher sowie bestandsferner Aus- bzw. Neubaustrecken. 

Vor diesem Hintergrund wurden bislang mittels Raumwiderstandsanalysen sogenannte Grobkorridore für die baulichen Aus-/neubaumaßnahmen gesucht – mit dem Ziel eine rechtssichere und abwägungsfreie Vorzugsvariante zu ermitteln, die letztlich Gegenstand der Parlamentarischen Befassung werden.

Bild: Schilder am Lagerbahnhof Bergen. Quelle: Altmann, 2022. 

Eine der als bestandsfern ermittelten Grundvarianten sieht den Neubau eines Streckenverlaufs von Celle über Bergen und weiter nach Norden vor. Während auf einer Dialogveranstaltung am 19. September 2022 in Celle noch keine Pläne der möglichen Streckenverläufe im Bereich von Bergen vorgestellt worden sind, äußerten sich die Planer der Bahn am 30. November 2022 im Rahmen der sogenannten Projektwerkstatt laut Presseberichten hierzu erstmals konkret. Demnach führt die Strecke über die Landstraße 298 – genau dort, wo sich der gepflasterte Knick zur Verladerampe befindet. 

Inzwischen sind detaillierte Pläne zum möglichen Streckenverlauf im Internet abrufbar. Medienberichten zufolge soll die Neubaustrecke nach aktuellem Stand angeblich favorisiert werden. 

Bild: Zufahrt zum Lagerbahnhof Bergen und der Verladerampe heute. Quelle: Altmann, 2022. 

Die Neubaustrecke könnte den denkmalrechtlich geschützten Bereich des Lagerbahnhofs sowie dessen angrenzende Areale unmittelbar betreffen. Hiervon wäre ein außerordentlich sensibler Erinnerungsort in seiner Eigenschaft massiv beeinträchtigt. Grundsätzlich erscheint kaum vorstellbar, dass für einen  historisch derart vorbelasteten Bereich ein so gravierender Eingriff überhaupt ernsthaft erwogen wird. 

Immerhin wäre es völlig absurd, wenn ausgerechnet ein Ort, an dem die Relevanz von Eisenbahninfrastruktur für den Holocaust bis heute offensichtlich wird, seine rechtmäßige Eigenschaft als Mahnmal und Gedenkort in Teilen ausgerechnet wegen neuerer Eisenbahninfrastruktur einbüßen müsste. 

H. Altmann

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Stand: 02/2023